»Die EU hätte nie ein Abkommen mit der Ukraine machen dürfen«

Hans Ulrich Wehler
Das blaue Sofa / Club Bertelsmann, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

Er galt als der wichtigste Historiker der alten Bundesrepublik – und später Gesamtdeutschlands: Hans-Ulrich Wehler. In seinem letzten Interview warnt er, dass soziale Ungerechtigkeit zu Gewalt und Kriegen führt – auch in Europa.

Arno Luik traf im Frühsommer 2014 Wehler zum Gespräch – ein paar Tage vor dessen Tod. Fast erschreckend, wie nüchtern der damals 82jährige Krieg als Mittel der Politik begreift, erschaudernd, wie seine düsteren Visionen derzeit Realität werden –  möge er nicht Recht behalten

Dieses Interview und viele weitere mit prominenten Menschen der Zeitgeschichte, finden Sie in Arno Luiks Buch »Als die Mauer fiel, saß ich in der Sauna«.

 

Herr Wehler, sind Sie froh, dass Sie so alt sind?

Ich bin nicht traurig, dass ich jetzt 82 bin. Ich denke überhaupt nicht daran, was mit mir passieren könnte, Schlaganfall oder so. Wenn es so weit ist, ist es so weit. Wenn Bekannte sagen, jetzt ist der und der gestorben, »die Einschläge kommen näher«, dann bin ich einen Moment betroffen, aber ich lass die traurige Nachricht ablaufen wie Teflon. Ich habe wohl das optimistische Naturell meiner Mutter geerbt. Ich habe in meinem Leben unheimliches Glück gehabt, ich kann lesen, schreiben, Vorträge halten, immer noch Auto fahren. Ich bin mit meinem Dasein sehr zufrieden.

Kurz vor seinem Tod traf ich Ihren Kollegen, den Historiker Eric Hobsbawm …

Ach, der Eric! Ein Freund, mehr als 40 Jahre lang. Der hielt ja aus Trotz an seinen marxistischen Überzeugungen fest!

… und der sagte, er sei froh, dass er so alt sei, er war damals 92, die Welt bewege sich auf eine »Tragödie« zu, das wolle er alles nicht mehr erleben. Der Mensch, meinte er, lerne einfach nichts aus der Geschichte: Man werde heute größer als früher, lebe etwas länger, aber vor allem sei man effizienter beim Töten geworden.

Das stimmt. In den Menschen scheint ein Aggressionspotenzial zu sein, das unter bestimmten Umständen aufgebaut werden kann, eine Aggressionslust, die abgerufen werden kann. Nach dem Versailler Vertrag waren ja viele Deutsche der Meinung, sie hätten zu Unrecht den Krieg verloren und zu viele Gebiete an Polen oder Frankreich abgeben müssen. Am Anfang des Zweiten Weltkriegs waren dann viele Deutsche der Meinung, dass der Blitzkrieg gegen Polen ein toller Erfolg gewesen ist, dass man es den Polen endlich gezeigt hat. Und dann, als Frankreich innerhalb von sechs Wochen geschlagen war, traf ich mit meinem Freund Jürgen Habermas auf der Straße seinen Vater mit einem Bekannten, und da sagte der Vater: Mensch, der Führer hat in sechs Wochen hingekriegt, wo wir vier Jahre im Schlamm gelegen haben!

Sie selbst wollten in den letzten Kriegstagen mit einer Pistole amerikanische Panzer angreifen.

Ja. Ich war da 13. Ich wollte das Vaterland verteidigen. Der Grund: Mein Vater war im Krieg verschwunden. Als Soldat hat er jeden Tag einen Brief geschrieben, jeden Morgen bin ich zum Briefkasten gerannt, aber plötzlich, seit dem Juli 1944, kam nichts mehr, da waren in mir unheimliche Gefühle. 1963 wurde mein Vater in einem Massengrab gefunden. Ich hab ihn als liebevollen Vater in Erinnerung. Ich hatte ein ungeheures Rachebedürfnis. Anfang 1945 war ich in einem Wehrertüchtigungslager, um ein Werwolf zu werden. Ich habe dann erlebt, wie das Heer zusammenbrach, wie durch unsere Kleinstadt zerlumpte Soldaten zogen, manche hatten französische Freundinnen dabei. Und dann kamen die Amerikaner an den Stadtrand von Gummersbach. Da war so eine provisorische Barrikade, und wir waren vier Jungs, und wir wollten die Panzer aufhalten. Plötzlich tauchte ein fliehender Leutnant bei uns auf: »Seid ihr verrückt?«, rief er. »Der Krieg ist aus!« Ich war total wütend auf ihn und schrie: »Wir verteidigen hier das Reich! Hau ab!«

Das hört sich an wie Bernhard Wickis Film »Die Brücke«!

Als ich den Film sah, dachte ich: Das ist ja meine Geschichte! Aber wir hatten keine Gewehre mehr, keine Panzerfäuste, nur Pistolen. Als wir die Panzer hörten, die waren laut und bedrohlich, sind wir dann doch abgehauen. Aber wenn wir besser bewaffnet gewesen wären, so wie die Jungs in Wickis Film, wir hätten die Panzer angegriffen.

Und wieder ist, um es mit Shakespeare zu sagen, »die Zeit aus den Fugen«.

Wie meinen Sie? Soll ich mit Büchners Danton zurückrufen: »Die Welt ist nichts als Ungerechtigkeit und Elend!«? Nein.

Ich muss tief Luft holen, um in einem Atemzug aufzählen zu können, wie es drunter und drüber geht: Bürgerkrieg in Syrien, Metzeleien in der Ukraine, Tausende von Flüchtlingen, die in den vergangenen Jahren im Mittelmeer ertrunken sind, politische Morde in Israel und Kämpfe im Irak, die NSA spioniert alle und alles aus und …

Stopp! Dass nun überall Kriege und Konflikte sind – mich überrascht das nicht. Es ist immer so. Wir in Europa hatten eine Sondersituation, diese Friedensperiode von 60 Jahren. Es ist ein Glück, dass wir das erleben durften.

Damit ist es womöglich vorbei. Jedenfalls wird die Bundeswehr nun für den weltweiten Einsatz fit gemacht.

Ja, und …

… und Bundespräsident Joachim Gauck entsorgt die sogenannte Kultur der Zurückhaltung, indem er erklärt: Deutschland müsse sich mehr engagieren, mehr Verantwortung übernehmen, Deutschland könne kein »Drückeberger in der Weltgemeinschaft« mehr sein, »entschiedener, substanzieller« solle sich das Land einbringen, im Klartext: bereit zum Krieg sein.

Ich stimme Gauck zu, und ich finde es unerträglich, wenn ihn ein Linker als »widerlichen Kriegstreiber« beleidigt. 60 Jahre nach dem Weltkrieg kann man nicht mehr nur die Wunden lecken und sich aus ernsthaften Konflikten heraushalten.

Sie waren doch in den 1950ern gegen die Wiederbewaffnung, oder täusche ich mich?

Was schert mich meine Position, die ich vor 60 Jahren als empörter Junge hatte? Es gibt Situationen, in denen die Menschen nicht friedlich zusammenleben. Das heißt aber nicht, um Gottes willen, dass ich jetzt Soldaten in den Süd-Sudan schicken würde oder nach Mali. Aber dass Fregatten vor Somalia kreuzen, um Piraten abzufangen, das finde ich in Ordnung. Dass der ehemalige Außenminister Westerwelle bei Libyen so versagt und sich gegen England, Frankreich, USA gestellt hat – ein großer Fehler.

Für Sie ist Krieg durchaus ein Mittel der Politik?

Ja. In Notfallsituationen, etwa falls die Serben wieder losschlagen sollten, kommt man nicht drum herum.

Aber die letzten Kriege des Westens haben die Welt doch auch nicht besser gemacht, was hat denn der Afghanistan-Krieg, der 13 Jahre dauerte, gebracht?

Ich war nicht glücklich über diesen Nato-Beschluss und diesen Einsatz. Als Historiker wusste ich, dass noch nie jemand in Afghanistan gesiegt hat. Die Engländer nicht, die Sowjets nicht, alle wurden geschlagen und gedemütigt. Afghanistan besteht ja fast nur aus Schluchten, und in jeder Schlucht wohnt ein anderer Stamm mit einer anderen Sprache, und alle sind gut bewaffnet. Die kann man nur knacken, indem man in jede Schlucht Elitetruppen schickt und bereit ist, wahnsinnige Verluste einzustecken. Mir war immer klar, dass für die Nato der Krieg in einem Debakel enden würde.

Die Verteidigungsministerin will die Bundeswehr zum »attraktiven Arbeitgeber« machen.

Da hat sie doch recht.

»Familienfreundlich« soll die Armee werden.

Auch damit hat sie recht.

Und dann sitzt der familienfreundliche Soldat am Joystick, steuert seine Drohne, feuert auf sein fernes Ziel, geht dann in die Bundeswehr-Kita, holt sein Kind ab – muss sich vorher nicht umziehen, nicht duschen. Gut so?

Gegen Aufklärungsdrohnen habe ich nichts. Aber dass sich von der Leyen so für bewaffnungsfähige Drohnen einsetzt, ist fatal. Damit wird eine Grenze überschritten, die ein Rechtsstaat nicht überschreiten darf. Vor Kurzem hätte ich solche Vorschläge für undenkbar gehalten.

Vielleicht geschieht bisher noch Undenkbareres, vielleicht gibt es Krieg mit Russland.

Das glaube ich nicht. Nun sind Sie ja noch düsterer als mein Freund Eric. Dass die Nato wegen der Ukrainekrise Flugzeuge überm Baltikum »fliegen lässt, deutsche Schiffe in der Ostsee kreuzen – Kokolores, Protzerei.

Oder ein gefährliches Spiel.

Es sind auf jeden Fall aufregende Zeiten. Der Mensch lernt nicht nur wenig aus der Geschichte, er ist auch nicht gewappnet für neue Situationen. Ich habe nie verstanden, dass ein Staatensystem, also die EU, der einzigen anderen Großmacht auf dem Kontinent so vors Schienbein tritt!

Was meinen Sie damit?

Für Putin ist der Zerfall der Sowjetunion das Schockerlebnis seiner Generation. Er hat ja vor ein paar Jahren im Bundestag eine tolle Rede auf Deutsch gehalten, sinngemäß gesagt: »Wir brauchen Vertrauen, Zeit, helft mir doch!« Der Westen hat das nicht gemacht, er hat stattdessen die Nato aggressiv in den Osten vorgeschoben, obwohl versprochen war, das nicht zu tun. Und die EU hätte nie ein Abkommen mit der Ukraine machen dürfen, deren Ziel der Eintritt in die EU ist. Die Ukraine gehört nicht zu Europa.

Gehört die Krim zu Russland?

Die Krim war fast immer russisch, das zeigt sich auch in der Literatur, jedenfalls seit 300 Jahren. Nikita Chruschtschow war für Stalin der Schlächter in der Ukraine gewesen, er hat wahrscheinlich den Tod von Millionen Ukrainern verursacht. Und als er Staatschef wurde, war der Protest gegen ihn in der Ukraine besonders laut. Er wollte das Land für sich gewinnen durch ein großzügiges Geschenk, und so hat er ihnen 1954 die Krim geschenkt. Ein Willkürakt. Dass Putin nun die Krim zurückholte, kann ich verstehen, obwohl ich es nicht für richtig halte. Gefährlich wird es, richtig gefährlich, wenn man Putin mit wirklichen Wirtschaftssanktionen, der Flucht der Oligarchengelder und dem Zerfall des Rubels vor sich hertreibt. Das würde schmerzhaft für ihn und Russland, sodass er reagieren müsste. Dann könnten die Dinge wirklich aus dem Ruder laufen.

Wissen Sie eigentlich noch, weshalb Sie Historiker wurden?

Ja. In Physik, Chemie, Mathematik hatte ich lauter Fünfen. Nur dank einer Sondergenehmigung des Ministeriums wurde ich zum Abitur zugelassen. Nur Deutsch und Geschichte machten mir Spaß, und so war klar, dass ich das studieren würde.

Geht es Ihnen als Historiker darum, die Geschichte nur zu begreifen oder auch darum, die Welt zu verändern?

Ich hatte immer einen starken politisch-pädagogischen Impetus. Das gilt auch für Leute wie Habermas, Dahrendorf, Jens, meine Kollegen Lepsius, Grimm – wir alle sind geprägt durch Krieg, Pimpfenzeit, Flakhelfer-, Soldat sein, und als die Bundesrepublik entstand, war bei uns allen das Gefühl: Jetzt hängen wir uns da rein, damit das zweite Experiment nicht wieder so schiefläuft wie die Weimarer Republik! Ich wollte und will die Welt durch aufklärende Argumente beeinflussen.

An so etwas glauben Sie – die Macht des Wortes?

Natürlich. Wenn ich das nicht täte, könnte ich nicht arbeiten. Ich hatte immer eine Scheu, mich in der praktischen Politik zu engagieren. Aber mit meiner wissenschaftlichen Arbeit habe ich mich eingemischt. Schon früh habe ich mich für die Oder-Neiße-Linie als Grenze zu Polen eingesetzt. Das gab einen Riesenkrach, Kanzler Adenauers Sohn Max, der sehr einflussreich war, der wollte mich aus der Uni werfen. Ich hatte von mehreren amerikanischen Universitäten Angebote, auch einen Ruf nach Harvard, aber ich hab das immer abgelehnt, weil ich mich in Deutschland viel besser einmischen konnte in die aktuellen Streitfragen – die SPIEGEL-Affäre, die Ostverträge, die …

Sie streiten und schreiben gern.

Ja, Streiten, Schreiben und Lesen, das macht mir Spaß.

Dort drüben auf Ihrem Schreibtisch liegt ein Manuskript, es ist von Hand geschrieben.

Ich schreibe alles von Hand.

Wie? Sie haben Dutzende von Büchern geschrieben, Hunderte von Aufsätzen, Zehntausende von Seiten – und das alles von Hand?

Mit dem Füllfederhalter. Für meine Deutsche Gesellschaftsgeschichte waren es 100 Blöcke à 100 Seiten.

Sie sind mir unheimlich. So voller Disziplin.

Ja. Ich war ja mal Leistungssportler, ich war jahrelang einer der besten deutschen 400- und 800-Meter-Läufer. Meine Freunde sagen, ich hätte diese Disziplin, die man im Spitzensport braucht, auf meine Arbeit übertragen. Ich glaube, das stimmt. Ich stehe jeden Tag um halb sieben auf, dann gehe ich rüber ins Schwimmbad, kraule 500 Meter, frühstücke dann mit meiner Frau. Danach lese und schreibe ich bis ein Uhr, Mittagessen, halbe Stunde ausruhen, dann lese oder schreibe ich bis sieben Uhr, Abendessen, Nachrichten hören, dann lese ich bis elf Uhr, Tag für Tag.

Und die wirkliche Welt draußen?

Die Wirklichkeit ist für mich die Welt der Bücher und Aufsätze.

In Ihren letzten Arbeiten blicken Sie auf die soziale Wirklichkeit hierzulande und rufen: Es ist dramatisch, wie die Kluft zwischen Arm und Reich wächst!

So ist es. Das oberste 0,1 Prozent der Bevölkerung besitzt 22,5 Pro-zent des gesamten Nettovermögens, das oberste Prozent verfügt über fast die Hälfte des Vermögens. Wenn ich das in Vorträgen erzähle, werde ich angeglotzt, viele sagen: »Das habe ich gar nicht gewusst, dass der Unterschied so groß ist.« Ich kriege aber auch boshafte Briefe, auch von Professoren, ich sei ein Neidhammel, heißt es. Aber es ist einfach so, das zeigen alle Statistiken: In den vergangenen 16 Jahren ist systematisch das Geld nach oben gewandert. Die Topmanager haben es geschafft, ihr Einkommen um 400 Prozent zu steigern, sie verdienen nun das 300-Fache ihrer Facharbeiter, 1989 war es noch das 20-Fache. Mercedes-Chef Dieter Zetsche bekommt eine Betriebsrente von 39,6 Millionen Euro, dafür müsste ein Arbeiter Tausende von Jahren leben. In der neueren Geschichte ist es keine Klasse, die ihre Habgier so ungebremst ausgelebt hat.

Sie regen sich richtig auf. Aber draußen im Land ist es ruhig.

Das erstaunt mich, diese Duldsamkeit. Wenn ich in Vorträgen auf diese obszönen Verhältnisse eingehe, schlägt mir Skepsis entgegen. Dumpfer Unglaube. Man will nicht mal wissen, dass das deutsche Steuerrecht in den letzten Jahren ständig zugunsten der Reichen und Neureichen reformiert worden ist. Die Tabaksteuer ist inzwischen höher als die Steuer auf Kapitalgewinne. Die Verteilungsgerechtigkeit ist komplett verschwunden. Aber es ist schwierig, eine Debatte über soziale Ungleichheit, gerechte Verteilung in Gang zu bringen.

Der Berliner Professor Norbert Bolz erklärt apodiktisch: »Das Problem der Ungleichverteilung ist unlösbar. Kapitalismuskritik ist politische Romantik.« So einen wie Sie, den hält er vermutlich für gefährlich, denn: »Was wir brauchen, ist Reichtumstoleranz«, sonst leite man »die Menschen zum Unglücklichsein« an.

Das ist Geschwätz. Aufklärung kann wehtun. Natürlich kann man den Reichtum umverteilen. Keiner im Ausland versteht, dass Deutschland, der reichste Staat Europas, keine Vermögensteuer erhebt. Keiner im Ausland versteht, dass wir fast keine Erbschaftssteuer haben. Wenn die so hoch wäre wie in Frankreich, nämlich 50 Prozent, würde der Staat in kurzer Zeit Billionen gewinnen. Geld genug für Bildung, für die Infrastruktur, die Renovierung der Innenstädte.

Der Ökonom Giacomo Corneo beklagt »die Unfähigkeit der Politik, die höheren Einkommen mehr zu besteuern, sich also das Geld dort zu holen, wo es vorhanden ist«.

Das stimmt. Da ist eine tief sitzende Angst vor einer mächtigen Lobby, die Stimmung machen kann. Die SPD hat außerdem noch Angst, mit dem »Neidvorwurf« konfrontiert zu werden, das möchte sie überhaupt nicht. Im Kaiserreich hätte die SPD aber bei solchen Zuständen längst den Klassenkampf ausgerufen. Sigmar Gabriel oder Frank-Walter Steinmeier sind nicht die Leute für die Barrikade. Die SPD schämt sich ja. Es waren ja Gerhard Schröder und Hans Eichel, die sich dem Neoliberalismus geöffnet haben. Jetzt ist die Spreizung aber so eklatant, die Ungleichheit so groß, dass sie bald die Legitimationsgrundlage des politischen Systems infrage stellt.

Andere sehen das komplett anders. »Es geht uns gut«, titelte unlängst die ZEIT, und die Frankfurter Allgemeine Zeitung beantwortete vor ein paar Tagen die selbst gestellte Frage: »Eine soziale Kluft in Deutschland?« so: »Davon ist nichts zu sehen.«

Das ist Quatsch. Ich bin oft an der Universität Harvard. Im Winter liegen dort vor den Belüftungsschächten Bedürftige. Die reichen Studenten registrieren das nicht. Es gibt eine Hornhaut bei den Besitzenden, eine große Bereitschaft, Dinge, die unangenehm sind, einfach zu ignorieren. So ähnlich ist das auch bei uns: Man will die Wahrheit nicht wissen. Sie müssen sich aber nur die Zahlen anschauen: Unter den 40 Millionen Beschäftigten in Deutschland gibt es 8 Millionen Mini-Jobs. Das ist eine Riesenzahl, das ist fast ein Viertel – und diese Menschen verdienen zwischen 400 und 800 Euro im Monat. Davon können Sie schwer leben, vor allem wenn Sie Familien und Kinder haben, fast jedes sechste Kind wächst unter Armutsbedingungen auf.

185 Seiten umfasst der aktuelle Koalitionsvertrag. Das Wort »Kinderarmut« kommt nicht vor.

Das ist diese Hornhaut, von der ich eben sprach. Ein großes Problem bei der Frage um Verteilungsgerechtigkeit ist: Man weiß alles über die Armen, die Mittelschicht, aber man weiß kaum etwas über die Reichen. Wer mehr als 18 000 Euro netto verdient, wird statistisch nicht erfasst. Seitdem die Vermögensteuer abgeschafft ist, sagt das Statistische Bundesamt, können wir Vermögen über 2 Millionen Euro nicht erfassen. Wenn die Politik aber keine Daten hat, sie vielleicht gar nicht haben will, kann sie auch nicht handeln, viel schlimmer noch: Sie will dann gar nicht handeln. Ich hoffe ja sehr, dass das Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty, wenn es im Herbst bei uns erscheint, endlich die überfällige Verteilungsdebatte auslöst, und dass diese Meldungen, wie bei uns allen der Wohlstand wächst, endlich hinterfragt werden.

Piketty schreibt in seinem Bestseller Capital, dass der Kapitalismus gesetzmäßig zu immer mehr Ungleichheit führe, dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer werde.

Er hat ja in einer ungeheuren Fleißarbeit Daten gesammelt, 20 Jahre lang, die eindrucksvoll den Mythos entlarven, dass jeder, der sich nur anstrengt, nach oben kommen kann. Bis vor Kurzem kannte ich Piketty nicht. Durch Zufall bin ich auf Aufsätze von ihm gestoßen und dachte spontan: Das ist ja einer, der den Kopf über dem allgemeinen Nebel hat!

Glauben Sie, dass eine gerechte Gesellschaft möglich ist?

Nein. Aber trotzdem muss man um mehr Gerechtigkeit kämpfen. Die Leute müssen sich wehren gegen die zunehmende Ungerechtigkeit.

Sie klingen nun fast wie ein Revolutionär. Aber das sind Sie doch gar nicht.

Sie haben recht. Ich will keinen Aufruhr, keine Revolte, keine Revolution. Ich möchte keinen Sturm auf das Palais Oetker hier in Bielefeld. Ich will Druck auf die Parteien. Ich hoffe immer noch auf die SPD, dass die ihr soziales Gewissen wiederaufleben lässt.

Gibt es irgendein Land, das Sie als Vorbild sehen?

Mich überzeugt das schwedische Modell. Schweden zeigt, dass man sehr wohl zum Nutzen seiner Bürger umverteilen kann. Es ist immer verblüffend, wenn Schweden mit Amerikanern diskutieren und mit welcher Lässigkeit die Schweden ihre Gleichheitspostulate hochhalten und zu den Amerikanern sagen: »Ja, glauben Sie denn, wir hätten keine Milliardäre? Aber wir besteuern sie ordentlich. Und anders als Ihre Milliardäre leben unsere nicht hinter Zäunen in von Wachtposten beschützten eigenen Vierteln!«

 

Hans-Ulrich Wehler war Handballspieler beim Bundesligaverein VfL Gummersbach, er war westdeutscher Meister im 400- und 800-Meterlauf, und so konsequent, wie er trainierte, so rigide war er bei seiner wissenschaftlichen Arbeit. In diesem unbedingten Willen zur Leistung lag auch seine Ablehnung der 68er – er hielt sie für Leistungsgegner. Wehler lehrte bis 1996 an der Uni Bielefeld. Spätestens mit seiner fünfbändigen Deutschen Gesellschaftsgeschichte galt er als der führende Sozialhistoriker. 2013 griff er nochmals in die Politik ein mit seinem Buch Die neue Umverteilung. Kurz vor seinem Tod erhielt er den »Lessing-Preis für Kritik«.

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10 Kommentare

      1. Er meint Faschisten, von Sozialisten hab ich schon lange nix mehr gehört oder gesehen.
        Auch bei uns nicht, die sind auch alle eher Faschistisch. Und die Nationalsozialisten fügten den Namensteil Sozialisten nur für den dümmeren, leichtgläubigen Teil der Bevölkerung ein.

  1. Ein trauriges Interview, das einmal mehr zeigt, wie vollkommen widersprüchliche Auffassungen ein und denselben, beileibe nicht dummen Kopf bewohnen können. Kein Wunder, dass es nicht klappen will mit dem Lernen.

  2. Ah ja, der Aggressionstrieb / -potential, Erfinder von Schulhofprügeleien und Atombomben. Mit 13 schon überzeugter Nationalist und als solcher gestorben, wahrlich ein Prunkstück “Gesamtdeutschlands”.

  3. Wenn ältere Menschen ihre Zeitlinien zurückverfolgen, welch ein Glück diese Zeilen lesen zu dürfen. Soetwas holt die ‘Realitäten’ ein, um festzustellen, wie wenig sich der zivilisatorische Prozeß stattgefunden hat. Das einzige was sich ändert sind die modifizierten Narrative, um im Stillstand zu verharren.
    Wie boniert sind die Gesellschaften?
    Die Boniertheit ist natürlich relativ, denn der fragende hat seinem Intellekt entsprochen.
    Das ist was ich an Menschen mag, wenn diese über ihren Geist Gesprächspartner finden und ihrem Geist frei laufen lassen, so besteht die Möglichkeit von aussen seine eigene Meinung zu ?prägen?, oder zumindest zu erahnen.
    Vielen Dank für diesen Buchauszug, da steckt was drin, ich bezeichne diese Inhalte als sehr wertvoll.

  4. Ein Wechselbad der Gefühle. Am Überraschendsten, dass er sich tatsächlich als Historiker bezeichnen lässt.
    Das klingt nach Wissenschaft und Objektivität.

    1. Bei der Zustimmung zu Gauck, spürt man, dass er gedanklich auf dem falschen Weg ist und wenn es dann gegen die Piraten geht, ist es offensichtlich.

      Die Industrieländer fischen den Afrikanern die Meere leer, teils auch mit Abkommen wie die der EU, dann wundern sie sich, wenn die afrikanischen Fischer alternative Einnahmequellen suchen in auskömmlichere Regionen auswandern.

      Es scheint ein Naturgesetz zu geben, dass Bürgerlichkeit – da meine ich noch nicht Kapitalismus; Kapital ist nur das Werkzeug – andere in die Enge treibt, bis irgendwo die Nähte der guten Ordnung aufplatzen, Flüchtlinge auftauchen, Räuber/Piraten auftauchen, Nazis unterstützt werden, um alten und neuen Feinden eins auszuwischen usw.

      Dann wird mit sicherer Gewissheit, im Recht zu sein, der “Notfall” erklärt.

      Im Großen ist er für die Durchsetzung der Mächtigen. Im Kleinen, in seiner näheren Nachbarschaft gefällt sie ihm nicht so gut.

  5. Verehrter Wladimir Wladimirowitsch!

    Ich gratuliere Ihnen von Herzen zu Ihrer Wiederwahl als Präsident der Russischen Föderation!

    In den 24 Jahren Ihrer Amtszeit haben Sie nicht nur den Frauen, Männern und Kindern Ihres eigenen Landes, sondern auch vielen anderen Ländern Wohlstand, Stolz und Frieden gebracht. Sie haben auch die tiefe und große Kultur Ihrer großen russischen Nation in die Welt zurückgebracht. Russische Musik, Literatur, Filme, Gemälde und Ballett sind von unermesslichem Wert für unsere Welt, und sie werden in der Geschichte der Menschheit nie vergessen werden!

    Möge Gott, der Allmächtige, Ihren Weg und Ihr Leben segnen und möge die große russische Nation sich durchsetzen und in Glück leben!

  6. Wer wissen will, warum die alte BRD (1949-1990) als solche das unverdiente Glück hatte, in einer unvergleichlichen Friedensepoche zu leben – aber darüber hinaus dann doch gescheitert ist:

    Siehe die Primitivphilosophie über den “Aggressionstrieb” in der Nachfolge der Nazis – des tatsächlich angesehensten Sozialhistorikers Hans-Ulrich Wehler der alten BRD, SPD-nah:

    “In den Menschen scheint ein Aggressionspotenzial zu sein, das unter bestimmten Umständen aufgebaut werden kann, eine Aggressionslust, die abgerufen werden kann”. – Und abgerufen wird, auch von ihm für die Bundeswehr und die Nato. Der Nato-treue Sozialdemokrat.

    Seine Geschichtsbücher über Deutschland sind tatsächlich lesenswert, um die Vergangenheit besser zu verstehen! Aber wesentliche Lehren für die Zukunft fehlen darin.
    Danke Arno Luik für diese Erkenntnis!

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