Ausschreitungen. Gewalt. Silvesterrandale. Politiker und Medien echauffieren sich nun sehr, rufen nach härteren Strafen. Das ist wohlfeil. Denn seit vielen Jahren sorgen die Regierenden mit ihrer Politik dafür, dass es in dieser gespaltenen Gesellschaft zu Eruptionen kommen muss. Das zeigt auch dieses Gespräch, das Arno Luik 2007 mit dem Armuts- und Elitenforscher Michael Hartmann führte – es ist bedrückend aktuell.
„Dem muss sich die Gesellschaft endlich ernsthaft stellen: Ein Viertel aller 15-Jährigen kann nicht richtig lesen oder schreiben. 15 Prozent eines Jahrgangs werden komplett abgehängt, sind ohne Perspektive. Keine Gesellschaft hält so etwas auf die Dauer aus.“
Wer klug und fleißig ist, schafft es an die Spitze. Das ist ein Märchen. Es ist die Gnade der richtigen Geburt, die denen da oben ihre Spitzenposition verschafft. Wichtig ist, sagt der Elitenforscher Michael Hartmann, schon als Kind den souveränen Umgang mit Macht erlernt zu haben. So wie er – der Kritiker: „Mein Vater war Finanzchef des Bistums Paderborn. Am Abendbrottisch ging es bei uns um Millionäre, die keine Kirchensteuer zahlen wollten, aber sich Sorgen machten um die angemessene Beerdigung.“
Herr Hartmann, es ruft die Kanzlerin Angela Merkel, es ruft der SPD-Chef Kurt Beck, und es ruft Herr Stoiber, sie alle rufen: „Bildung!“ „Mehr Bildung! Wir brauchen mehr Bildung!“ Sie sagen, nur wer klug ist, hat eine Chance, kann es schaffen, kommt nach oben.
Ja, ja, sie rufen, das stimmt schon, und es macht sich auch gut als Schlagzeile. Aber es sind Sonntagssprüche. Wenn es ihnen wirklich ernst wäre, dann müssten sie sich als Erstes fragen: Was sind uns die Schulen, die Universitäten wirklich wert? Dann müssten sie sofort aufhören, den Bildungsbereich weiter auszuquetschen. Schulgebäude, Universitäten zerfallen. In den letzten zehn Jahren wurden fast 1 500 Professorenstellen eingespart, bei den Geisteswissenschaften fielen über zehn Prozent weg, manche Fächer werden regelrecht ausgelöscht.
Sie sind wütend.
Nein, aber die Politik macht doch das Gegenteil von dem, was sie lautstark verkündet. Nehmen Sie die jetzt beschlossene Steuerreform für Unternehmen, sie wird fünf bis zehn Milliarden kosten: Geld, das auch für die Bildung fehlt. Wir müssen aber – sofort – mehr in die frühkindliche Bildung investieren, das dreigliedrige Schulsystem muss abgeschafft werden. Es ist historisch überholt, ist aber eine heilige Kuh, die sich niemand zu schlachten traut. Doch diese Strukturen aus den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts sorgen dafür, dass immer mehr Leute auf der Strecke bleiben.
Der gerade erschienene OECD-Bericht gibt Deutschland – wieder einmal – fürchterlich schlechte Noten in Sachen Bildung.
Und das zu Recht. Die anderen Länder stecken einfach viel mehr Geld in ihr Bildungssystem. Bei uns wird gespart, gespart. Fast alles, was an den Schulen, den Hochschulen im Moment passiert, von der Einführung der Studiengebühren bis hin zu diesen sogenannten Elite-Universitäten – das führt nicht zu mehr und besseren Studenten. Fast alles läuft darauf hinaus, dass die Bildung, wie die Gesellschaft im Allgemeinen, immer mehr auseinanderreißt.
„Bildung ist Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist Bildung“ – das ist ein Motto der SPD.
Das ist ja nicht falsch. Aber in ihrem Grundsatzprogramm hat sich die SPD von der Verteilungsgerechtigkeit verabschiedet, doch die ist aufs Engste mit der Chancengleichheit verbunden. Im Klartext: Kinder, die in Familien aufwachsen, die Hartz IV bekommen oder seit zwei Generationen nicht mehr regelmäßig beschäftigt sind, haben so gut wie keine Chancen, sie sind die geborenen Verlierer.
Die Zahlen sind erschreckend: 85 000 Jugendliche verlassen jährlich die Schulen ohne Abschluss.
Dem muss sich die Gesellschaft endlich ernsthaft stellen: Ein Viertel aller 15-Jährigen kann nicht richtig lesen oder schreiben. 15 Prozent eines Jahrgangs werden komplett abgehängt, sind ohne Perspektive. Keine Gesellschaft hält so etwas auf die Dauer aus. Aber diese Jugendliche sind nicht einfach dumm.
Wirklich nicht?
Nein, es sind die Strukturen, die sie aus der Gesellschaft katapultieren.
Der Soziologe Ralph Dahrendorf würde Ihnen da vehement widersprechen. Er sagt: Der Einzelne ist nicht mehr das, als was er geboren ist oder was er besitzt, sondern nur noch, was er kann.
Das ist ein Unsinn, ein Mythos, der bewusst am Leben gehalten wird. Es stimmt einfach nicht, dass nur der Wille bestimmt, wer nach oben kommt.
Wie? Es ist die Gnade der Geburt, ob ich ein Unternehmenschef werde oder …
Ja. Wir sind keine Fahrstuhlgesellschaft, in der es für die meisten nach oben geht, wie es in den 80ern des vergangenen Jahrhunderts manchmal noch hieß. Zum Manager wird man geboren. Vier von fünf Managern der 100 größten Unternehmen stammen aus den oberen drei Prozent der Bevölkerung, dem Großbürgertum, nur ein Chef aus den DAX-30-Unternehmen ist ein Arbeiterkind. Bei den meisten anderen Vorstandschefs waren die Eltern Unternehmer, Manager, hohe Beamte oder Adel. Man kennt sich. Das ist eine wirklich geschlossene Gesellschaft.
Der kürzlich an einer Überdosis Heroin verstorbene Gottfried Graf von Bismarck, hat in Oxford studiert, hatte schlechte Noten, und er sagte: „Wenn ich mich um einen Job bewerbe und auf der Liste steht Meier, Müller, Schmidt oder von Bismarck, bin ich ziemlich sicher, dass ich den Job bekomme.“
Natürlich. Denn jeder Chef denkt: Der tickt wie ich. Der ist dem gleichen Wertesystem verbunden. Der weiß, wie man sich richtig bewegt, kann über Opern plaudern, kann Regeln bewusst oder ironisch verletzen, er hat den richtigen Habitus, die Aura: Ich gehöre dazu. Er strahlt Souveränität aus.
Das kann man doch alles lernen.
Nein.
In Bernard Shaws Komödie „Pygmalion“ bringt der Sprachforscher Professor Higgins dem Blumenmädchen Eliza Doolittle Oxford Englisch bei, damit sie als Herzogin auftreten kann. Und sie kann es.
Es mag mal klappen. Aber wie man sich Oben bewegt, wie man mit Macht richtig umgeht, das lernt man nur, wenn man in diesem Milieu aufgewachsen ist. Mein Vater war Finanzchef des Bistums Paderborn. Bei uns am Abendbrottisch ging es um die Auseinandersetzungen im Erzbistum, um Prälat, Generalvikar, Kardinal. Um Millionäre im Ruhrgebiet, die keine Kirchensteuern zahlen wollten, aber sich Sorgen machten um die angemessene kirchliche Beerdigung. Ich habe von Kindesbeinen an ganz automatisch mitbekommen, was Macht bedeutet, wie die oberste Schicht tickt, wie man sich da bewegt.
Und Sie meinen tatsächlich, dass ließe sich nicht anlernen?
Nein. Das ist auch der Grund, weshalb persönliche Auswahlgespräche, bei den Universitäten verstärkt in Mode kommen. So findet, unabhängig von den Noten, eine gezielte soziale Selektion statt. Bei so einem Aufnahmegespräch an der ENA, einer Elite-Universität in Frankreich, war eine Frage: Wie tief ist die Donau in Wien? Die brillanteste Antwort kam von einem Bewerber, dessen Vater schon an der ENA war: „Unter welcher Brücke meinen Sie denn?“ Er wusste natürlich nicht, wie tief die Donau ist, redete aber selbstbewusst los. So etwas macht Eindruck.
Ich würde sagen: Das ist eine Schlagfertigkeit, die man sich antrainieren kann.
Nein. Eine Sicherheit. Ein Arbeiterkind gerät in so einer Situation, in der es ums Ganze geht, in Panik. Verzweifelt versucht er zu ergründen, wie tief die Donau ist, oder er schweigt, was der schlimmste Fehler ist.
Klaus Kleinfeld, ein Arbeiterkind aus Bremen, hat es zum Vorstandschef von Siemens gebracht.
Ja, es gibt immer die Ausnahme. Es gab auch Jürgen Schrempp, der von ganz unten kam. Aber als er gehen musste, lachte man bei der Deutschen Bank in Frankfurt diabolisch auf: Endlich war er weg, der Parvenü. Er war ihnen zu laut, zu wenig distinguiert. Aufsteiger bekommen oft Chancen in Umbruchzeiten, wenn Umstrukturierungen anstehen. Sie sind in der Regel die Härteren. Kleinfeld kam zu Siemens als Kostenkiller, Mitarbeiter entlassen, nun geht er zur amerikanischen Firma Alcoa, da wird von ihm das gleiche erwartet. Kleinfeld bestätigt meine These, dass Habitus, Souveränität letztendlich oft wichtiger sind als Bildung.
Aber er hatte doch Erfolg!
Nein, als er wirklich gefordert war, versagte er. Kleinfeld hat gelernt, Kosten zu sparen, darauf war er getrimmt. Betriebswirtschaft – das kann er. Aber als er mit dem Korruptionsskandal bei Siemens konfrontiert war, war er überfordert. Wenn man ihn im Fernsehen sah, tat er einem fast leid: Er war fahrig, unsicher, hatte überhaupt keine Vorstellung, wie er mit dieser politischen Frage umgehen sollte. Er musste gehen.
Es ist düster, was Sie sagen: Es heißt doch, egal, wie ich mich mühe, ich habe keine Chance.
Nein. Es gibt ja nicht nur Armut und Reichtum, es gibt ja – noch – ein breites Mittelfeld. Es macht ja schon einen Unterschied, ob Sie als Arbeiterkind es zum Studienrat schaffen, ob Sie als Sohn eines Amtsrichters auch studieren können und danach einen ordentlichen Job bekommen. Aber der Kampf um die Plätze in Sicherheit wird härter. Ein Zeichen, dass die Zeiten härter werden, ist auch, dass nun bei uns ganz offensiv über Elite und Eliteuniversitäten geredet wird.
Es war unter Rot-Grün, es war der sozialdemokratische Kanzler Gerhard Schröder, Kind einer Putzfrau und eines Hilfsarbeiters, der nach Elite-Universitäten rief.
Ja. Es ist eine bittere Ironie: Ohne die Bildungsoffensive der 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als der Staat wirklich mal Geld in die Ausbildung seiner Bürger steckte, hätte er seinen Aufstieg nie geschafft. Aber es gibt immer viele Aufsteiger, die vergessen, woher sie kommen. Sie sichern nun ihre Privilegien ab. Das ist ein Grund, weshalb bei uns so hartnäckig, so erbittert und gegen bessere Wissen am dreigliedrigen Schulsystem festgehalten wird.
Das ist doch ein bisschen primitiv gedacht.
Nein, überhaupt nicht. Dieses Schulsystem sorgt dafür, dass über die Hälfte der Kinder, fast 60 Prozent, aus dem Kampf um ein Studium und relativ gute Arbeitsplätze herausfällt. Da wird ganz früh, viel zu früh sortiert. Man bemäntelt das, behauptet stattdessen, dass Gesamtschulen …
… für Kanzlerin Merkel sind sie „sozialistische Gleichmacherei“ …
…, wo Gute und Schlechte zusammen sind, die Schlechten das Niveau nach unten ziehen. Keine wissenschaftliche Untersuchung bestätigt dies. In Skandinavien zeigt sich dagegen, dass auch die Guten profitieren. Nein, es geht einfach um die Frage: Ist man bereit, mehr Geld in die Ausbildung zu stecken? Ist man bereit, mehr Lehrer, Pädagogen, Professoren einzustellen? Ist man bereit, dass die Bildungschancen gerechter verteilt werden? Darum geht es.
Beim Verband der Deutschen Industrie, BDI, heißt es ganz kategorisch: „Ohne Elitenförderung ist Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig!“ Und die Ministerin Buhlmann ergänzt: „Wir brauchen eine Leistungselite.“
Das ist ein Schlagwort. Es soll rechtfertigen, dass ein ganz kleiner Teil der Bevölkerung viel bessere Bedingungen bekommt als der Rest.
Wissen Sie wie der Duden „Elite“ definiert?
Nein.
Als „Auslese der Besten“.
Das ist eine Definition, die nichts mit unserer Wirklichkeit zu tun hat. Ich habe mir gerade in einer Studie …
… sie ist soeben unter dem Titel „Eliten und Macht in Europa“* erschienen …
… Frankreich, Großbritannien, also Länder mit Elite-Einrichtungen untersucht, auch die USA angeschaut: Es gibt definitiv keinen Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Erfolg eines Landes und seinen elitären Bildungseinrichtungen. Was es allerdings eindeutig gibt: Je exklusiver und teurer die Eliteeinrichtungen sind, desto größer sind die sozialen Unterschiede, desto aggressiver sind auch die Lebensbedingungen, desto rauer der Alltag. In Großbritannien, in den USA ist jeder Fünfte arm. In Skandinavien jeder Zehnte. Die Wahrscheinlichkeit in Großbritannien oder in den USA überfallen, ausgeraubt oder ermordet zu werden, ist um ein Vielfaches höher als in den skandinavischen Ländern. Und wir sind eindeutig auf dem Weg zum rauen, zum amerikanischen Modell.
Hilft Bildung denn gegen Raubüberfälle?
Bildung allein sicherlich nicht. Aber Sie müssen sehen, dass sich der Sozialstaat in seinen Kernbereichen auflöst, in der Steuerpolitik, im Bildungsbereich. Deutschland polarisiert sich dramatisch: unendlicher Reichtum auf der einen Seite, zunehmende Armut auf der anderen. Hoffnungslosigkeit. Aggressionen. Den Armen kennt man. Es gab ja neulich eine Unterschichtendiskussion, das gleiche müsste man auch über die Reichen machen.
Sie sind Soziologe – machen Sie es.
Der Reiche bleibt unerkannt. Geld ist scheu. Man macht sich unbeliebt, wenn man die Reichen untersuchen will. Wir haben über 100 Milliardäre, so viele wie Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien zusammen. Die Reichen leben in einer anderen Welt. Es hat sich eine kleine Schicht von Personen herausgebildet, die immer weniger mit dem Rest der Gesellschaft zu tun hat. Sie auch kaum mehr wahrnimmt. Utz Claasen, der eben entlassene Vorstandschef von EnBW, er ist gerade mal 44 Jahre alt, bekommt für die vier Jahre, die er bei EnBW gearbeitet hat, bis zu seinem Rentenalter ein Übergangsgeld von 400 000 Euro jährlich, danach als Pension dies selbe Summe bis zum Tode.
Er hat im letzten Jahr ein Buch veröffentlicht: Mut zur Wahrheit.
Ja, und darin verkündet er, Deutschland lebe seit Jahren über seine Verhältnisse.
Er spricht aber nicht von sich.
Nein, wie zynisch sein Buch ist, merkt er gar nicht. Er sieht nur sich und seine Gruppe – die Ackermanns, die Kleinfelds. Neulich wurden am selben Tag zwei Zahlen bekannt: Die Dax-30-Vorstandsmitglieder verdienen im Schnitt – ohne Sondervergütungen – 3,4 Millionen Euro. 1, 9 Millionen Kinder in Deutschland leben in Armut. Hinter den Zahlen heißt das: Hunger. Es gibt Kinder, die vor Hunger dem Unterricht nicht mehr folgen können. In keinem Land, außer den USA, sind Kinder länger arm als bei uns. Aber die Manager und viele Politiker bekommen diese Wirklichkeit gar nicht mit, sie haben auch keine Lust, sich mit dem Rest der Bürger abzugeben. Sie fühlen sich als Elite, sie möchten – wie in Frankreich, England, USA – für sich exklusive Institutionen, wo sie noch mehr als bisher unter ihresgleichen sein können.
In den 70ern des vorigen Jahrhunderts studierte ich in den USA am Amherst College, dort trafen sich die Kinder der Geld-, Finanz- und Adelsaristokratie. Einer meiner Fußballpartner war Prinz Albert von Monaco. Ein paar Kilometer von unserem Campus entfernt war die staatliche Universität von Massachusetts. Für die Amherstianer hieß sie „the zoo“, der Zoo, die Affen dort. Also: die Begüterten schauen voll elitärer Verachtung nach unten, man weiß, was man hat, man weiß, wer man ist.
Ja, wir gehen in dieselbe Richtung, und in vielleicht 20 Jahren – wenn die Bevölkerung sich nicht wehrt – werden wir Elite-Universitäten und Elite-Schulen haben. Es werden daraus dann enge, lebenslange Netzwerke entstehen, die Elite wird dann noch homogener als bisher, sie wird sich noch besser abschotten, sie wird ihre Interessen noch besser durchsetzen können. Es wird dann, von Kindesbeinen an, soziale Trennungen, zwei Welten geben. Der Trend ist eindeutig: hin zu mehr Ungerechtigkeit.
Wie erklären Sie sich das?
Ohne die skandinavischen Länder verklären zu wollen: Es sind egalitärere Gesellschaften. Sie haben höhere Steuersätze, aber sie haben auch ein besseres Bildungswesen, 60 bis 70 Prozent eines Jahrgangs studieren, sie sind also für die Zukunft besser gewappnet als wir. Bei uns wurden, wie gesagt, die Steuern für die Besserverdienenden und die Industrie dramatisch gesenkt. Unter Gerhard Schröder gab es dazu noch einen Bruch in der politischen Elite: In den 90er Jahren kamen nur fünf von 16 Kabinetts-Mitliedern aus bürgerlichen Kreisen, Finanzminister Waigels Vater war zum Beispiel Maurerpolier; bei Schröder kam dann jeder Zweite, jetzt unter Merkel sind von den 16 Mitglieder des Kabinetts zehn aus dem Großbürgertum. Das hat Auswirkungen. Das ist ein ganz anderes Milieu, ein anderes Denken. Mitgefühl schwindet. In dieser Elite rücken die Interessen der normalen Bürger aus dem Blickfeld. Die können sich gar nicht vorstellen, dass 500 Euro Studiengebühr jemand vom Studium abhalten kann.
Wen zählen Sie zur Elite?
Die wirkliche Elite, also die Elite, die gesamtgesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen kann, das sind rund 4 000 Personen: Es sind die wichtigsten Minister im Bundeskabinett, große Familienunternehmer, die Vorstände großer Unternehmen, hohe Beamte in der Berliner Ministerialbürokratie, die Richter an den hohen Gerichten, die über Steuerrecht oder Studiengebühren entscheiden können.
In Ihrem dicken Buch über die Macht nennen Sie keine Namen. Aber wer sind nun die wirklich mächtigen Herren und Damen?
Mir geht es nicht um einzelne Namen.
Die zwei Aldi-Brüder besitzen 37 Milliarden Euro – das reicht aus, um 116 Fußballplätze mit 500-Euro-Scheinen zuzupflastern.
Familienunternehmer wie Aldi, also die zwei Albrecht-Brüder, oder auch Otto sind mächtig. Sie – als Einzelpersonen – können Milliarden bewegen, sie können entscheiden, wieviel Geld zu welchen Bedingungen wo investiert wird. Oder wenn Sie sich die Familien Piech und Porsche angucken, die Porsche und VW kontrollieren – von ihren Entscheidungen hängen Hunderttausende ab. Oder die Quandt-Familie, jener Zweig, der bei BMW und, bis vor Kurzem, beim Pharmakonzern Altana die Mehrheit hat: Da ist die wirkliche Macht. Diese Familie hat einen ungeheuren Einfluss auf die Infrastruktur und die Industriepolitik, auf die Arbeitslosenzahlen. Dass Altana, immerhin ein erfolgreiches DAX-Unternehmen, verkauft wurde – das war eine Entscheidung der Frau Quandt. Oder wenn BMW ein neues Werk baut, löst das eine Standortdiskussion in ganz Europa aus. Wer kriegt den Zuschlag? Wer bietet die steuerlich günstigsten Bedingungen, die günstigsten Arbeitskräfte?
Wie muss ich mir das vorstellen: Da greift Frau Quandt zum Telefon und ruft in Berlin an?
Nein, sie ruft da nicht an. Die Politik geht zu ihr oder zu den BMW-Vorständen, sie möchte ja, dass in Leipzig ein BMW-Werk entsteht. Mächtig ist auch jemand wie Manfred Schneider, der frühere Chef von Bayer Leverkusen, immer noch im Aufsichtsrat von sechs Unternehmen. Wenn er sagt, was er vor einiger Zeit tat, „man muss sich ernsthaft die Frage stellen, ob wir nicht den sozialen Standard spürbar reduzieren sollen? Warum reichen nicht 25 Urlaubstage statt der bisherigen 30?“, dann ist das nicht einfach so dahingesagt. Dann verändert diese Frage das soziale Klima in Deutschland. Das ist der unendliche Reiz der Macht: Ich bin unabhängig, und ich kann Dinge beeinflussen.
„Liberté, égalité, fraternité!“ – diese Ideale der französischen Revolution, sind sie nur ein Traum?
Diese Werte sind wohl in meinem Leben nicht erreichbar. Aber unser Kurs, das zeigt auch der Armutsbericht der Bundesregierung, ist klar: hin zu mehr Ungerechtigkeit. Aber da muss man sich dann eingestehen, was das bedeutet: mehr Gewalt, mehr Kriminalität.
Vergangenen Winter frage ich bei Michael Hartmann nach: Ob sich seit unserem Gespräch die Dinge verbessert hätten? Nur zwei Sachen, sagt er: In den meisten Bundesländern gibt es nun das zweigliedrige Schulsystem und somit etwas mehr Abiturienten. Und auch die Studiengebühren sind wieder abgeschafft. Aber für die Ärmeren, sagt Hartmann, sei die Lage schlechter geworden: Schafften es in den 1980er Jahren noch 60 Prozent von ihnen, binnen zehn Jahren der Armut zu entfliehen, sind es heute nur noch 30 Prozent.
Michael Hartmann, 70, war Professor für Soziologie an der TU Darmstadt. In vielen Büchern und Studien beschäftigte er sich mit dem Führungspersonal der Bundesrepublik, zuletzt: „Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden (Campus Verlag)
In der Höchbuchfassung des Buches »Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna« lässt sich das Gespräch zwischen Arno Luik und Michael Hartmann hören.
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Wenn jetzt schon 15% ohne Bildung sind, werden das mit der nächsten Generation mehr. Umfeld und so. Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, dann hilft kein Jammern. Claasen und Hartmann pflegen sozusagen den gleichen Zynismus. Andererseits kann man ohne Bildung nur wenige bis gar keine Zusammenhänge erkennen.
Es ist allerdings völlig unerheblich, wenn einen die Flut wegträgt, darüber nachzudenken ob ein Damm eine gute Idee gewesen wäre. Die meisten Menschen vergessen, dass alles seine eigene Dynamik entwickelt. Der Spruch Wehret den Anfängen enthält eben auch die Erkenntnis, dass ab einem gewissen Moment die Dinge nicht mehr verändert werden können.
“Wenn jetzt schon…”-anscheinend nicht bemerkt: das Interview und somit die Angaben darin sind schon 15 Jahre alt, PISA lässt grüßen.
Interessanterweise ist aber selbst die Gesamtheit der Elite nicht in der Lage, die Problemlage tiefgründig zu analysieren, weil aufgrund des speziellen Horizonts Kenntnisse fehlen und damit für bestimmte Ereignisräume keine passenden Interpretationen möglich sind – außer den fehlgeleiteten.
Das Mantra der angebotsorientierten Wirtschaft lautet ja, dass sich jedes Angebot die Nachfrage selbst erschließe und deshalb keynesianische Politik grundsätzlich fehlgeleitet sei. Wenn man sich deshalb auf der Angebotsseite um die Stärkung der Wettbeberbskraft kümmert, indem vor allem Kosten gesenkt werden, hat man aufgrund solcher Kosten-induzierter Wettbewerbsvorteile das Problem nicht, aufgrund mangelnder Nachfrage das Angebot reduzieren zu müssen. Die Kapazitäten sind vielmehr ausgelastet und führen aufgrund dieser Betriebsblindheit dazu, seine Erfahrungen als Heilmittel für der ganzen Gesellschaft überstülpen zu müssen. Und weil die Person dieser Worte hoch dotiert und wirtschaftlich erfolgreich ist, vermuten große Bevölkerungsteile eine besonders hohe allgemeine Kompetenz in dieser verortet.
Wenn jeder erster werden kann, heißt das noch lange nicht, dass sie es zugleich werden können, was damit suggeriert werden soll.
Und die Überheblichkeit dieser demokratischen Funktionsadelswelt, deren Qualitäten schon oft nicht dazu reichen, sich ein Brot zu schmieren, weil man es ja gewohnt ist, dies zu delegieren, wird nur durch die Konfrontation mit der rauhen Wirklichkeit zu überwinden sein.
Der gesellschaftliche Nährboden für Randale ist unzweideutig gegeben. Wenn diese dann richtig kanalisiert werden sollten, sind Revolutionen möglich, als deren Ergebnis niemand mehr von oben herab blickt und auch keiner mehr ehrfürchtig nach oben blicken muss.
Ein interessantes Interview, jedoch darf man nicht alle Prämissen des Interviewten einfach unerwidert stehen lassen.
Ein paar davon herausgepickt:
>> Die anderen Länder stecken einfach viel mehr Geld in ihr Bildungssystem.
Noch mehr vom Selben bringt meistens nicht mehr Erfolgt, auch nicht im Bildungsbereich.
Bildung muss sich lohnen und muss finanzierbar bleiben – für die Financiers. Und die Financiers sind die Steuerzahler (meines Wissens verdient der Staat selbst ja kein Geld, er nimmt es lediglich anderen weg).
Das heisst dass jeder in die Bildung investierte Euro mit Zins und Zinseszins in 20 Jahren 2 oder 3 Euro abwerfen muss, indem die Ausgebildeten dann den ROI für das Land, die Gesellschaft leisten. Ohne ROI wird jede Gesellschaft langfristig verarmen. Natürlich liegt hier zugegebenermassen das Problem im bemessen des ROI ….
Was wir aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen können ist, dass sogenannte MINT-Berufe den besten ROI haben; Geisteswissenschaften wie Philosophen, Historiker, Psychologen und ja, auch Soziologen usw braucht es auch, aber nicht soviele, und Gender-Gedöns: dessen ROI liegt bei Minus.
>> Ein Viertel aller 15-Jährigen kann nicht richtig lesen oder schreiben.
Gewiss ein Problem, welches man aber nicht löst, indem man diesen Jugendlichen nun in der Schule weitere Notebooks und Tablets zur Verfügung stellt.
Lernen ist mühsam, ist Arbeit; und wie alle Arbeiten fallen einem die einen Arbeiten leichter, an den anderen tut man sich schwer. Der heutige Weg, das Lernen möglichst zu erleichtern, führt aber offensichtlich in die Irre, und ignoriert, dass es zum lernen einen (unbestimmten, aber entschiedenen) Willen seitens des Schülers braucht, mehr zu lernen, um irgendwann mehr zu erreichen als die Eltern.
Wenn ich in meiner nahen und weiten Umgebung sehe, dass 10 Jährige längst ein Handy haben, längst mit den Eltern an Orten in den Ferien waren, wo selbst ich, der ich geschäftlich jahrelang um die ganze Welt gereist bin, nie war …. was um Himmelswillen sollen denn diese Schüler noch erreichen wollen, das sie nicht schon längst haben?
OT – aber exemplarisch – hier eine kleine Geschichte aus meinem 45-jährigen Berufsleben:
1) Software-Problem in China. Ich frage den Vertreter dort: “wie lange kann ich Sie erreichen?” Antwort: “solange Sie mich brauchen” (Zeitzone + 7h, es war dort bereits 19h)!
2) Software-Problem hier in der Schweiz. Ich verlange von meinem Mitarbeiter, das Problem schnellstmöglichst zu lösen. Antwort wahlweise: “Ich muss jetzt aber weg, sonst bekomme ich in der Kantine kein Essen mehr” oder “Ich muss jetzt gehen, sonst verpasse ich den Zug”
Kurzum: es fehlt hier im Westen nicht an Ressourcen, nirgends, sondern am Leistungs-Hunger !
OT Ende.
>> … das dreigliedrige Schulsystem muss abgeschafft werden
Einspruch!
Bereits seit langem sehen wir: der integrative Ansatz von Schulen ist grandios gescheitert, nivelliert lediglich nach unten.
Wir müssen doch akzeptieren: nicht jedes Kind hat das Zeug zu einem Einstein, nicht jedes Kind hat dieselben Begabungen und Talente.
Wenn wir jedes Kind ungefähr nach seinen Begabungen, Möglichkeiten und Limiten (ja, die haben die Kinder auch: Limiten!) fördern wollen, ist eine Gliederung der Schule unerlässlich; wichtig ist dabei die gute Einstufung der Kinder wie auch der Durchlässigkeit der Gliederungen, sodass der schulische Weg nach oben – aber auch nach unten – offen bleibt.
Was sicher in die Irre führt, ist die Überakademisierung der Gesellschaft – keine Gesellschaft kann nur auf Akademikern aufbauen. Kein Land, kein Volk kann mehr als 30% Akademiker hervorbringen, welche diesen Namen auch verdienen; der Rest ist Ballast.
Wo Herrn Luik sicher recht zu geben ist: das Elternhaus hat grossen Einfluss auf diese Wege. Ist das Elternhaus akademisch, landen die Kinder – manchmal mit Gewalt und auf Biegen und Brechen – ebenfalls auf dem akademischen Weg, nicht selten zum Nachteil aller.
Was bei all dem auch nie vergessen werden darf: nicht viele Akademiker spielen ihre eigenen persönlichen Investitionen während der Ausbildung (jahrelanger Verzicht auf Einkommen und Vorsorge) nach Beginn der akademischen Berufslaufbahn wieder ein, im Forschungsbereich sowieso nicht; viele müssen am Ende der Berufslaufbahn erkennen, dass sie als gute Berufsleute besser gefahren wären.
Insgesamt aber dennoch ein aussergewöhnlich gutes und interessantes Interview, danke.
Selbstverständlich ist das alles noch aktuell. Das bürgerlich-kapitalistische Modell befand sich schon damals in der Defensive, zunehmend versteinernd und hat sich seitem nur noch weiter in die Schützengräben – neuerdings wieder wortwörtlich – hineingegraben.
Seit dem Zustrom der Einwanderer / Fluechtline 2015 sind die Standards Rapide nach unten gegangen.
Ich erinnere mich sehr gut an einen Satz einer Vorgesetzten 2017 ueber meine IHK Facharbeiterbriefe:
Herr H. ihre IHK Zertifikate werden in den naechsten Jahren nichts mehr Wert sein.
Oder eines Studenten bei einer Party: Zeitarbeit? Ne, niemals, ich bin doch kein Sklave etc…. .
Heute Laechel ich darueber, aber zu der Zeit war es mein Antrieb weiter zu kaempfen etc…..aber ich habe da noch lernen koennen durch meine Schulzeit in den 80ern und 90ern.
Danke Arno Luik fuer die Veroeffentlichung dieses Artikels! Aus meiner Sicht, sehr gut!
Danke an Arno Luik, sehr schoener Artikel.
Sehr Treffend. Ich habe eine Erfahrung gemacht die es aehnlich Beschreibt.
Seit 2015 ist es sehr Sichtlich und Klar geworden das die Standards in der BRD Abgebaut werden.
Ich hatte 2017 eine Gespreach um eine neue Lohneingruppierung und ich konnte sehr gut Argumentieren etc….. .
Es wurde abgelehnt trotz das ich seit fast 10 jahren fuer den Arbeitgeber taetig gewesen bin mit dem Satz:
Herr H. ihre beiden IHK Zertifikate werden bald nichts mehr Wert sein.
Beide Ausbildeungen machten insgesamt aus Ausbildungszeit von 6,5 Jahren aus. Kenntnisse mit denen der U.S German nichts mehr anfangen kann.
Es ist so Derb in dieser Gesellschaft verankert andere Menschen zu missachten Anstatt als Freund oder Bruder etc anzusehen….. .
Leider habe ich Erinnerungen an gewisse Dinge das das soziale Problem zu einer echten Altaeglichen gelebten Geisteskrankheit heranwachsen werden wird.