„Das Problem ist systematisch“

New York Times
Ajay Suresh from New York, NY, USA, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

Der US-amerikanische Journalist, „New York Times“-Reporter und Pulitzerpreisträger Matthieu Aikins berichtet seit Jahren aus Kriegsregionen und war lange in Afghanistan unterwegs. In seiner jüngsten Recherche „America’s Vigilantes“ beschäftigte er sich mit der Rachekultur innerhalb von US-Elitesoldaten und deckte dabei mehrere Kriegsverbrechen auf.

Viele Soldaten, die sich daran beteiligten, kehrten nach ihren Einsätzen in die USA zurück und wurden von Donald Trump und seinen Unterstützern mit offenen Armen empfangen. Emran Feroz hat darüber mit Aikins ausführlich gesprochen.

 

Feroz: Können Sie kurz beschreiben, worum es in ihrer letzten Recherche, einem Dreiteiler im „New York Times Magazine“, über das Vorgehen von amerikanischen Spezialeinheiten in Afghanistan ging und wie Sie überhaupt damit anfingen?

Aikins: Meine Recherche fokussierte sich auf die Kriegsverbrechen von US-Spezialeinheiten und wie diese im Nachhinein verdeckt wurden. Ich habe vier Jahre daran gearbeitet und versucht mich auf jene Verbrechen in Afghanistan zu konzentrieren, über die zuvor nicht berichtet wurde. Ich habe zwei Dutzend Elitesoldaten, darunter ehemalige sowie noch aktive, interviewt. Unter ihnen befanden sich auch einige, die öffentlich dem US-Militär eindeutige Vorwürfe bezüglich Amtsmissbrauchs machten – ein Umstand, der innerhalb dieser Kreise sehr selten eintritt. Die „New York Times“ erhielt mittels Klagen auch Zugang zu Tausenden von Seiten an Aktenmaterial, die der Öffentlichkeit nicht bekannt waren. Darunter befanden sich etwa Gefangenenprotokolle sowie Militärdokumente. Hinzu kam natürlich, dass ich mehrmals nach Afghanistan gereist bin, um mehrere Dutzend Augenzeugen zu interviewen. Die ganze Recherche hilft uns zu verstehen, was wirklich während des „längsten Krieges“ der Amerikaner in Afghanistan passierte, als Einheiten wie die Special Forces oder die Green Berets für den Kampf zum Einsatz kamen. Sie verdeutlicht auch, dass innerhalb dieser Truppen eine Kultur der Gesetzlosigkeit existierte, die sich dort über die Jahre entwickelt hatte und die von hochrangigen Militärs bewusst ignoriert oder gedeckt wurde. All dies führte unter anderem dazu, dass einige der besagten Soldaten Verbrechen in den USA begingen. Gleichzeitig wurde das, was sie als wehrhafte Selbstjustiz betrachteten, von Donald Trump oder seinem „Kriegsminister“ Pete Hegseth willkommen geheißen.

„In Australien und Großbritannien gab es Untersuchungskommissionen, um Kriegsverbrechen aufzudecken“

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Feroz: Denken Sie, dass viele Verbrechen der NATO-Truppen in Afghanistan bis heute der Öffentlichkeit nicht bekannt sind? Seit dem Ende des Einsatzes haben wir immerhin von britischen, australischen, amerikanischen und auch neuseeländischen Kriegsverbrechen gehört, die neu aufgedeckt worden sind.

Aikins: Die Fälle, mit denen ich mich beschäftigt habe, spielten sich in sehr abgelegenen Regionen des Landes ab. Sie waren meist schwer erreichbar und sehr gefährlich. Viele Journalisten konnten sie deshalb unter anderem gar nicht aufsuchen, während besagte Truppen sich meist sowieso abschirmten und sehr klandestin vorgingen. Hinzu kommt, dass innerhalb dieser Militärstrukturen Schweigen sowie den Dreck unter dem Teppich kehren zum Alltag gehörten, selbst wenn Untersuchungen stattfanden. Fakt ist, dass wir letzten Endes tatsächlich nicht wissen, wie viele solcher Fälle sich in all den Jahren ereignet haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich deutlich mehr ereignet hat, ist allerdings sehr hoch. In Australien und Großbritannien gab es zumindest ernstzunehmende Untersuchungskommissionen, die von den jeweiligen Regierungen initiiert worden sind, um einige Kriegsverbrechen der jeweiligen Eliteeinheiten aufzudecken. Auch über diese Fälle wurde klar, dass das Problem systematisch ist. Es geht nicht nur um ein paar schwarze Schafe, sondern um die Gesamtproblematik, die diese Art der Kriegsführung mit sich bringt. Unschuldige Menschen wurden ermordet. Danach hat man versucht, das Ganze zu vertuschen.

Feroz: Wie haben die Taliban auf Ihre Recherchen vor Ort reagiert? Kommen denen solche Geschichten nicht gelegen, damit sie dann ihr eigenes Narrativ stärken können?

Aikins: Ich begann mit meiner Arbeit, als die vom Westen gestützte afghanische Regierung in Kabul im August 2021 fiel und die Taliban das gesamte Land übernahmen. Es war einfach wichtig zu verstehen, was in Afghanistan falsch gelaufen ist und nun war es möglich Regionen aufzusuchen, die vorher schwer zugänglich waren. Der Krieg war vorbei und es war sicherer. Natürlich hatten sie in diesem Fall auch ein Eigeninteresse. Sie wollten, dass die Welt diese Geschichten erfährt und teilten auch problemlos Akkreditierungen aus. Ich muss allerdings auch betonen, dass sie unsere Arbeit oder die Story an sich nicht kontrollierten. Es gab keine bewaffneten Männer, die uns eskortierten. Wir durften frei reisen und jede Person, mit der wir sprechen wollten, interviewen. Ich hatte das Gefühl, dass viele Zeugen und Betroffene viel offener als zuvor über all diese Verbrechen sprechen konnten.

Feroz: Während des Krieges bezeichnete das US-Militär Gräueltaten, wie sie von Ihnen beschrieben werden, meist als „Propaganda von Aufständischen“ („insurgent propaganda“). Sehen Sie in diesem Kontext Parallelen zu anderen Regionen der Welt, die vom „War on Terror“ der USA heimgesucht wurden? Sehen sie eventuell auch Gemeinsamkeiten mit dem, was die Menschen in den letzten Wochen und Monaten aus Gaza gehört haben, als es um mutmaßliche israelische Kriegsverbrechen ging?

Aikins: Was mir früh auffiel, war der Umstand, dass Vorwürfe, die von Familienmitgliedern oder Dorfeinwohnern erhoben wurden, schnell beiseitegeschoben wurden. Das US-Militär behauptete dann einfach, dass all diese Afghanen unglaubwürdig seien und lügen würden. Es wurde als Taktik oder Propaganda der Aufständischen, Terroristen, Taliban bezeichnet. Dies hat sich zwar tatsächlich hier und da ereignet, doch die Verallgemeinerung des Geschehens war falsch und diente in erster Linie den Interessen des US-Militärs. Denn so konnte man sich immer einfach aus der Affäre ziehen. Doch in den Fällen, denen ich nachgegangen bin, wurde klar, dass alle Vorwürfe stimmten, doch die Afghanen wurden dennoch als Lügnern abgestempelt. Dieses Muster erkennt man auch in anderen Regionen, in denen die USA Kriege geführt haben. Und ja, man sieht sie auch in Gaza. Es gibt überall einen Kampf um die Deutungshoheit, ja, einen Kampf um die Wahrheit. Es gibt kaum Militärs – und damit meine ich nicht nur das amerikanische, sondern auch die meisten anderen der Welt – die in Kriegszeiten ein Interesse daran haben, ihre eigenen möglichen Vergehen unter die Lupe zu nehmen. Sie betrachten das einfach nicht als ihre Zuständigkeit. Deshalb ist es umso wichtiger, dass unabhängiger Journalisten sowie andere Akteure dieser Arbeit nachgehen.

„Es gab keinerlei Konsequenzen nach Fehlhandlungen“

Feroz: Sie schreiben auch darüber, dass viele Täter nicht bestraft, sondern vom Militär befördert wurden.

Aikins: Viele Personen, die in meiner Recherche vorkommen, wurden nicht nur von ihren Vorgesetzten geschützt, sondern auch befördert. Das fiel mir immer wieder auf. Das machte einfach deutlich, dass es keinerlei Konsequenzen nach Fehlhandlungen gab. Auch in ihren jeweiligen Einheiten konnten sich die Soldaten weiterhin frei bewegen und austoben, obwohl man wusste, was sie getan hatten. Ein Grund hierfür war auch die Tatsache, dass jeder vom Dreck des anderen wusste. Niemand war in diesem Netz sauber, weshalb auch niemand zum „Verräter“ werden wollte. Deshalb kam es auch unter anderem auch zu Beförderungen. Wer gut schweigen konnte, wurde belohnt.

Feroz: Einige ihrer Protagonisten sind afghanische Ortskräfte, die für das US-Militär als Dolmetscher tätig waren. Seit 2021 werden viele dieser Männer eher positiv dargestellt. Sie waren immerhin westliche Verbündete, die den Einsatz unterstützt haben. Aber ihre Recherche verdeutlicht, dass viele dieser Afghanen auch in Kriegsverbrechen involviert waren. Dies betrifft nicht nur Dolmetscher, sondern auch Milizionäre, die von der CIA aufgebaut wurden. In ihren neuen Heimatländern genießen diese Menschen seit ihrer Evakuierung Straffreiheit (was ihre Verbrechen in Afghanistan angeht). Ist das nicht problematisch?

Aikins: Viele der Afghanen, um die es hier geht, waren eben nicht nur Dolmetscher. Sie waren auch bewaffnete Kämpfer oder für geheimdienstliche Arbeit zuständig. Sie waren die afghanische Seite eines brutalen Machtapparats, der von den Amerikanern errichtet wurde. Dieses Regime war ein wichtiges Instrument der amerikanischen Spezialeinheiten. Viele Afghanen, die für das US-Militär arbeiteten, waren in vielen kontroversen Dingen involviert. Ich bin mir nicht sicher ob die Öffentlichkeit versteht, dass viele Afghanen, die nach dem Fall Kabuls evakuiert worden sind, Teil der paramilitärischen Einheiten der CIA waren. Die CIA spielte eine Schlüsselrolle bei den damaligen Evakuierungen und es war ihr ein wichtiges Anliegen, all ihre Kämpfer außer Landes zu bringen. Es ist eine Realität, dass unsere afghanischen Verbündeten in vielen Kontroversen verwickelt gewesen sind.

Feroz: Ist es nun nicht so, dass nicht nur Männer wie Donald Trump diese Soldaten toll finden und als Helden feiern, sondern all das auch Jahre zuvor der Fall war und weite Teile der amerikanischen Gesellschaft, etwa die US-Popkultur, das Ganze mittrugen und Kriegseinsätze wie jenen in Afghanistan zelebrierten?

Aikins: Ich denke, jeder Krieg schafft seine eigenen Helden. Wir sahen das im Zweiten Weltkrieg oder auch während des Koreakrieges. In den zwanzig Jahren des „War on Terror“ waren es die Eliteeinheiten, die zu Helden stilisiert wurden. Navy SEALs und Green Berets wurden ein Teil Hollywoods. Sie wurden romantisiert und den Zuschauern als Helden verkauft. Sie sind zu einem Teil der amerikanischen Kultur geworden. Ehemalige Elitesoldaten führen mittlerweile Beratungsfirmen. Sie haben ihre eigenen Podcasts und Fitnessprogramme. Meine Recherche hatte das Ziel, einen genauen Blick auf die düstere Seite dieser Helden zu werfen. Helden, die im Kampf gegen die „Terroristen“ moralische und rechtliche Grenzen überschritten und heute von Trump und Co. für ihren „Vigilante-Ethos“ gefeiert werden. Sie haben ihnen sogar zu ihrem politischen Erfolg verholfen und auch dazu beigetragen, dass der Rechtsstaat im heutigen Amerika massiv unter Druck gerät. Warum? Weil diese Art der Selbstjustiz nun auch innerhalb unserer Landesgrenzen durchgesetzt wird, etwa, wenn US-Soldaten in amerikanischen Städten eingesetzt oder mutmaßliche Drogenschmuggler mittels Drohnenangriffen ausgeschaltet werden. All diese Entwicklungen sind äußerst gefährlich, doch sie haben ihre Wurzeln im zwanzigjährigen „War on Terror“ in Afghanistan und anderswo.

 

Infos und Quellen

Genese: Vor über zehn Jahren beschäftigte sich Matthieu Aikins zum ersten Mal mit den Kriegsverbrechen im Distrikt Nirkh in der Provinz Maidan Wardak nahe Kabul. Damals war Aikins noch als freier Reporter in Afghanistan unterwegs und schrieb unter anderem für das „Rolling Stones Magazine“. Auch ein großer Teil seiner jüngsten Recherche spielt sich in dieser Region ab und behandelt das Verschwinden mehrerer männlicher Dorfbewohner. Sie wurden von den US-Truppen und ihren afghanischen Verbündeten verschleppt, gefoltert und ermordet. Viele dieser Regionen waren damals schwer aufzusuchen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, denn vor der Rückkehr der Taliban im August 2021 wurde in Maidan Wardak stets gekämpft. Die Straßen waren vermint, die Taliban kontrollierten zahlreiche Distrikte und Luftangriffe des US-Militärs gehörten zum Alltag. All dies fällt heute weg, weil die Taliban das gesamte Land regieren. Mit dem Ende des Krieges kam die Diktatur der Extremisten, doch viele Straßen sind nun passierbarer als zuvor – und ebnen somit auch den Weg für manche Recherchen. Andere, etwa zu all den Repressalien der Taliban, fallen deutlich schwieriger aus.

Emran Feroz

Emran Feroz arbeitet als freier Journalist mit Fokus auf Nahost und Zentralasien, unter anderem für Die Zeit, taz, Al Jazeera und die New York Times. Er berichtet regelmäßig aus und über Afghanistan und den US-amerikanischen Drohnenkrieg und ist der Gründer von „Drone Memorial“ (www.dronememorial.com), einer virtuellen Gedenkstätte für zivile Drohnenopfer.
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2 Kommentare

  1. Die systematischen Vertuschungen werden verwendet, um die Einheit (sowohl der einzelnen Spezialtruppen als auch des Militärs als ganzes) nicht zu schwächen, in keinster Weise, auf keinem Feld. Unfehlbarkeit und somit Unverwundbarkeit soll und muss dargestellt werden.

    Was dann aber folgendes zeigt: Je stärker ein System nach außen auf Militär setzt und angewiesen ist, um so schwächer und instabiler ist es nach innen.

    Systemische Vertuschung ist also ein Symptom für systemische Schwäche. Und das nicht nur beim Komplex Militär.

  2. Nicht nur das US- Militär….Sowohl in Australien als auch in GB gingen und gehen die Regierungen gegen diejenigen vor, die die Rituale der „Bluttaufe“ offengelegt haben. Gerade die Briten haben in Afghanistan hunderte Menschen für dieses Ritual abgeschlachtet. In Australien ist der „Whistleblower“ zu einer hohen Haftstrafe verurteilt worden. Die Täter und deren Vorgesetzte, die diese Verbrechen nicht nur geduldet, sondern oft auch befohlen haben, sind „rehabilitiert“….Und der mutmaßliche Massenmörder und Kriegsverbrecher Oberst Klein von der Bundeswehr wurde zum General befördert:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Klein_(General)
    Scheint ein Markenkern der NATO zu sein.

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