Was ich zurückließ

Putzkraft
Carolina Latorre Canet, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Als Arbeiterkind hatte Marco Ott einen schweren Start. Nicht nur im Arbeitsleben, sondern auch im gesellschaftlichen Umgang. In seinem Erstlingswerk »Was ich zurückließ« erzählt er wortgewandt von seinen Erfahrungen. Ein Buchauszug.

Im Zug auf dem Weg zurück nach Frankfurt liest ein junger Mann ein Buch mit einem ausgeschnittenen Foto als Cover. Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und gebe den Titel in eine Suchmaschine ein, bestelle ihn in einer Buchhandlung und hole das Buch gleich am nächsten Tag dort ab.

Mit einem Geodreieck aus Schulzeiten unterstreiche ich Sätze in Rückkehr nach Reims und klebe gelbe Haftmarker auf beinahe jede zweite Seite. Mir ist, als würde das Buch zu mir sprechen, als hätte jemand Worte gefunden für meine stummen Empfindungen. Beim Lesen habe ich beinahe körperliche Schmerzen, aber ich kann es nicht aus den Händen legen. Es fühlt sich an, als könne ich mich selbst darin wiederfinden, ein Arbeiterkind, das aus der Provinz in die Großstadt geflohen ist, um sich neu zu erfinden. Mit jedem Umblättern entfaltet sich eine neue Facette. Es beleuchtet, begründet, erklärt alles. Meine Beziehung zu euch [Anm.: Der Autor ist im Zwiegespräch mit seinem Elternhaus], die zwischen uns entstandene Distanz, das Schweigen.

Kapitalsorten nach Bourdieu

Wochenlang spreche ich mit fast niemandem. Meine Stimme höre ich nur bei kurzen Wortwechseln am Funk oder an den Rezeptionen, meinen seltenen Seminarbeiträgen oder unseren sonntäglichen Telefonaten. Um meiner Einsamkeit zu entfliehen, spaziere ich nachts durch die Stadt. Im Takt meiner Schritte tauchen Kindheitserinnerungen auf, formen sich zu einzelnen Wörtern und dann zu ganzen Sätzen, die ich vor mich her flüstere und im Licht einer Straßenlaterne in ein Notizheft kritzle. Zu Hause tippe ich die Notizen in ein Textverarbeitungsprogramm. Etwas in meinem Schreiben hat sich verändert. Es ist dringlicher geworden, und nachdem ich die Worte aufgeschrieben habe, ändere ich sie kaum noch. Ich schreibe über alles, was ich jahrelang zu verstecken versucht habe. Während ich am Schreibtisch sitze, das Rollo halb runtergelassen, der untere Teil mit Sichtschutzfolie abgeklebt, vergehen Stunden, obwohl es sich anfühlt, als würde die Zeit stillstehen. Ich merke nicht einmal, wie meine Füße auf dem Fliesenboden auskühlen.

Statt Literaturvorlesungen zu besuchen, setze ich mich in Soziologieseminare. Ich höre von den verschiedenen Kapitalsorten nach Bourdieu, und wie eng die Verteilung dieser mit der sozialen Herkunft zusammenhängt, wie sehr es die Position eines Akteurs im sozialen Raum bestimmt. Plötzlich macht alles Sinn. Mein Scheitern ist kein persönliches Versagen oder gar eine Frage mangelnder Begabung, sondern auf meine Mittellosigkeit in mehrfacher Hinsicht zurückzuführen. Auf die eine oder andere Weise habe ich es schon lange gespürt, aber nicht in Worte fassen können. Jetzt besitze ich endlich eine Sprache dafür.

Gefühl von Gemeinsamkeit

Nach den Seminaren hat die Welt sich vergrößert. Auf einmal glaube ich hinter die Fassade zu blicken, betrachte die aufgeblasenen jungen Männer vor dem Gebäude der Wirtschaftswissenschaften und die schwarzgekleideten Leute im Philosophencafé. Das Schauspiel dieser Theorie ereignet sich vor meinen Augen. Die alltäglichsten Dinge sind nicht mehr natürlich. Haben sich alle schon immer so verhalten, und ich bemerke es erst jetzt?

Ich versuche mich mit meinen Kommilitonen anzufreunden, aber schon nach wenigen Minuten nehme ich nicht länger an ihrem Gespräch teil, sondern werde zu einem Beobachter. Wie in den Seminaren haben fast alle eindeutige Meinungen und verteidigen diese mit Überzeugung. Während ich meine Antworten abwäge und in Gedanken formuliere, reden sie einfach drauflos. Mit der Zeit wird mir klar, dass sie kaum mehr gelesen haben als ich. Es fällt ihnen bloß leicht, ihr bruchstückhaftes Wissen kundzutun – sie genießen es sogar. Sie bewegen sich anders durch die Welt, mein neu erworbenes Wissen verstärkt diesen Eindruck nur. In meiner Anwesenheit müssen sie sich beobachtet und bewertet fühlen, ich muss ihnen vorkommen wie ein Eindringling. Vielleicht sind sie von meinem Schweigen auch eingeschüchtert. Sie erkennen sich nicht in mir wieder, und ich mich nicht in ihnen. Wir bleiben einander fremd.

Der Klappentext von Rückkehr nach Reims bringt mich auf Édouard Louis, meine Internetrecherchen zu Pierre Bourdieu auf Annie Ernaux. Ein ganzer Kosmos autosoziobiografischer Texte tut sich vor mir auf. Mit jedem Buch, das ich von ihnen lese, entsteht ein seltsames Gefühl von Gemeinsamkeit.

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26 Kommentare

  1. Wenn man sich abschirmt aus dem täglichen Wahnsinn, wird man automatisch oft ‘allein’.
    Je älter man wird, desto mehr zieht man sich zurück, weil die gewonnen (hoffentlich) Erkenntnisse dazu beitragen. Oder wer will sich diesen ganzen Saustall 24/7/360 antun?
    Ich um hier zu lesen und meine diversen Abneigungen gegenüber ein System kunde zu tun, aber das reicht ja auch aus, für seine gewünschte Inselwelt.

  2. Freunde,

    es scheint ein interessantes Buch zu sein, dass Bruder Marco geschrieben hat. Der Auszug ist berührend, informativ und inspirierend. Das Werk hilft uns sicherlich einen guten Einblick in die Erfahrungen und Herausforderungen von Arbeiterkindern in unserer Gesellschaft zu erhalten.

    Und es ist gerade heute immens wichtig, über das Thema der Ausgrenzung von Arbeitern zu sprechen, da es ein weit verbreitetes Problem in unserer Gesellschaft ist, das oft übersehen oder ignoriert wird. Arbeiterkinder wie Bruder Marco haben oft mit Vorurteilen und Diskriminierung zu kämpfen, sowohl im Arbeitsleben, an der Universität oder allgemein im gesellschaftlichen Umgang. Doch idem wir mit ihnen über ihre Erfahrungen und Herausforderungen sprechen, können wir ein Bewusstsein schaffen und dazu beitragen, diese Form der Ausgrenzung zu bekämpfen. Schließlich hat auch der Prophet Mohammed (Friede sei mit ihm!) gesagt. “Ein Gläubiger, der sich mit den Menschen verträgt und mit ihnen in Frieden lebt, ist besser als ein Gläubiger, der sich von den Menschen fernhält und nicht mit ihnen auskommt.“ Er betonte die Bedeutung von Toleranz, Respekt und Zusammenhalt in der Gemeinschaft und ermutigte uns dazu, uns aktiv für Harmonie und Einheit unter den Menschen einzusetzen.

    Auch der heilige Koran lehrt uns, dass alle Menschen gleich sind und dass niemand aufgrund seiner sozialen Herkunft oder seines beruflichen Status diskriminiert werden sollte. So heißt es beispielsweise in Sure 49:13: “O ihr Menschen, Wir haben euch aus einem Mann und einer Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Der Edelste von euch vor Allah ist der Gottesfürchtigste von euch.” Dieser Vers erinnert uns daran, dass wir alle vor Gott gleich sind und dass wir einander respektieren und akzeptieren sollten, unabhhängig von unseren sozialen oder beruflichen Hintergründen.

    Als ich die Zeilen Bruder Marcos eben las, kam mir ferner ein Lied in den Sinn, das er und andere Mitbrüder hier womöglich nicht mehr kennen. Es heißt „Smalltown Boy“ und stammt von der britischen Band Bronski Beat, geschrieben im Jahr 1404 nach der Hidschra (1984 in der Zeitrechnung der Christen). Seine Zeilen thematisieren die Isolation, Diskriminierung und das Streben nach Akzeptanz und Freiheit. Das Lied erzählt die Geschichte eines jungen schwulen Mannes, der in seiner Kleinstadt isoliert und diskriminiert wird und sich deshalb entscheidet, in die Großstadt zu ziehen. Ähnlich ist es ja in „Rückkehr nach Reims“ von Eribon, der seine eigene Erfahrung als schwuler Mann aus der Arbeiterklasse schildert, der sich in seiner Herkunftsfamilie und -umgebung nicht akzeptiert fühlt und deshalb von ihr fortzieht. In beiden Werken geht es um die Erfahrung von Menschen, die nach einem Ort suchen, an dem sie endlich sich selbst sein können. Ich habe das Lieder öfters gehört, als ich vor ein paar Jahren Eribon las und es scheint mir auch zu Bruder Marcos Schrift zu passen.

    Abschließend möchte ich sagen, dass es äußerst wichtig ist, dass mehr Arbeiterkinder wie Bruder Marco ihre Stimme erheben und über ihre Erfahrungen sprechen, um die Ausgrenzung und Diskriminierung zu bekämpfen. Indem sie ihre Geschichten teilen und wir uns zusammen mit ihnen für ihre Rechte einsetzen, können wir alle dazu beitragen, dass die Gesellschaft sensibilisiert wird und Veränderungen herbeiführen. Jeder verdient es, respektiert und akzeptiert zu werden, unabhängig von seinem sozialen Status. Es liegt aber an uns allen, uns für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung einzusetzen und eine inklusive Gesellschaft aufzubauen. Packen wir es also an! Wenn nicht wir – wer dann?

    Friede sei mit euch!

    1. Musste schon wieder bei Wikipedia nachsehen:
      Alle islamischen Rechtsschulen lehnten homosexuelle Handlungen in der Vergangenheit als sündhaft ab. Homosexueller Geschlechtsverkehr gilt nach konservativer Auslegung als Unzucht (Zina). Umstritten ist innerhalb dieser Schulen, welche Art von Strafe in unterschiedlichen Fällen zu verhängen war. Die Meinungen reichten von Auspeitschung bis zur Todesstrafe.

      – Dieser Vers erinnert uns daran, dass wir alle vor Gott gleich sind und dass wir einander respektieren und akzeptieren sollten, unabhhängig von unseren sozialen oder beruflichen Hintergründen. –
      Sollte das nicht auch unabhängig von dem, an wen oder was wir glauben (oder nicht) sein?

      1. Werter Bruder noly,

        ja, es stimmt, dass im heiligen Koran an mancher Stelle Homosexualität als Sünde angesehen wird. Gerade Sure 7:80-84 und Sure 4:16 bringen zum Ausdruck, dass solche Handlungen falsch sind und gegen die Natur der Schöpfung Allahs sowie die natürliche Ordnung verstoßen.

        Beachte jedoch bitte, dass die Interpretation von religiösen Texten und deren Anwendung im Leben von verschiedensteen Faktoren und Kontexten beeinflusst wird. Vergegenwärtige dir ferner Sure 109:6: “Euch eure Religion und mir meine Religion.” Dieser Vers unterstreicht nämlich ausdrücklich die Idee der religiösen Toleranz und Achtung vor den Glaubensüberzeugungen anderer. Wir Gläubigen werden ermutigt, anderen ihren Glauben zu lassen und friedlich mit Menschen anderer Religionen und Identitäten umzugehen, Schwule und Lesben inbegriffen. Dieser Vers dient uns als Richtschnur für einen respektvollen Umgang mit unterschiedlichen Lebensweisen und Überzeugungen, einschließlich der sexuellen Orientierung. Muslime finden somit sehr wohl auch im heiligen Koran Anleitung, um Toleranz, Nächstenliebe und Mitgefühl zu leben und Respekt gegenüber allen Menschen zu zeigen. Wir sind schließlich alle Brüder des Einen Gottes!

        Ich selbst hege nichts gegen Schwule und Lesben, auch wenn ich weder schwul noch lesbisch bin. Und mein Glaube verbietet mir nicht mit einem Schwulen zu reden, sein Buch zu lesen oder sein Lied zu hören.

        Islam ist Toleranz, Harmonie und Gerechtigkeit.

        Friede sei mit dir!

        1. Vielen Dank für diese Klarstellung. Es passiert leider – auch hier – häufig, dass Glaubensangelegenheiten allein aus christlicher Perspektive betrachtet werden . Wobei nur selten die Religionsgeschichte bemüht wird, sondern meistens der gegenwärtige Stand im Zentrum steht. Die Alternative zu “Glaubenstoleranz” heißt für mich nicht Atheismus und schon gar nicht religiöse Intoleranz.
          Aus weiblicher Sicht, Lebenserfahrung, füge ich aus dem Alltag hinzu: Kirchen betrete ich nicht im Bikinioberteil. Ich kann mich nicht daran erinnern, in der Türkei als Alleingängerin jemals belästigt worden zu sein, denn ich habe mich in etwa an die Landesitten gehalten. Keine körpernahe Kleidung und Kopf-/Schultertuch. Passt!
          Bisher habe ich noch keine für mich nachvollziehbare Begründung dafür gefunden, warum die Zurschaustellung männlicher Genitalien oder sekundärer Merkmale ein Affront gegenüber Frauen sein sollte und der umgekehrte Fall “Freiheit”. Meine persönliche Erklärung: Der Verlust der Privatsphäre in den modernen westlichen Gesellschaften. Dieser Verlust macht in allen Kulturen individuelles Verhalten anfechtbar. Das Strafrecht halte ich nicht für eine angemessene Antwort auf dieses Problem.

        2. https://www.deutschlandfunk.de/sure-109-der-islam-kennt-keine-religioese-toleranz-100.html
          https://www.deutschlandfunk.de/sure-60-vers-7-ueber-den-umgang-mit-nicht-muslimen-100.html

          “Dass er aber selber nicht bereit ist, den Götterglauben der Mekkaner zu akzeptieren, zeigt seine Anrede „Ihr Ungläubigen“. Seine wahren Absichten offenbarte Mohammed, als er 622 nach Medina auswanderte, wo er sich durch geschickte Politik zum Herrscher der Stadt und schließlich von ganz Arabien aufschwang. Nun begann er den Übertritt aller Untertanen zum Islam rücksichtslos durchzusetzen.

          Die frühe Sure 109 wurde durch spätere Offenbarungen außer Kraft gesetzt, die zur Tötung aller „Götzendiener“ aufriefen (Sure 9,5), sofern sie sich nicht bekehren wollten. Christen und Juden wurde eine dritte Möglichkeit eröffnet, nämlich den „Dhimmi“- oder „Schutzbefohlenen“-Status anzunehmen.
          Diese im Koran verankerte Praxis (Sure 9, 29) wandte zum Beispiel der sogenannte „Islamische Staat“ – kurz: IS – bei der Eroberung der syrischen Stadt Rakka 2013 an. Die Christen wurden vor die Wahl gestellt: Bekehrung oder Dhimmi-Status oder „das Schwert“.
          Die Christen, die den Dhimmi-Status akzeptierten, mussten die Kopfsteuer (dschizya) bezahlen, sie mussten sich den Muslimen gegenüber unterwürfig verhalten, und sie durften ihre Religion nur so ausüben, dass sich kein Muslim in seinen religiösen Empfindungen verletzt fühlte. Alle Kreuze mussten von den Kirchen entfernt werden, Glockenläuten war verboten, und ebenso lautes Gebet und Singen beim Gottesdienst.”

          1. Man muss kein Islamwissenschaftler sein, um zu wissen, dass “anerkannte Schriften” aller Religionen und Weltanschauungen nicht von einer Person stammen sondern einen langen zeitlichen Vorlauf mündlicher Überlieferung haben und die Anerkennung der Tradition sehr viel mit Macht- und Interessenverhältnissen zu tun hat. Warum das für den Islam nicht gelten sollte, müsste man schon begründen.
            Dass ausgerechnet der Deutschlandfunk in diesem Zusammenhang als `objektive´ Quelle herhalten muss, befremdet mich etwas.

            1. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem überlieferten Text kann es im Islam nicht geben. Der Koran ist das Wort Gottes und wurde vom Propheten Mohammed niedergeschrieben. Das Wort Gottes ist perfekt und heilig und jede Kritik ist haram.

              Natürlich wurde der Koran umgeschrieben im Lauf der Jahrhunderte (allein schon die Einfügung von Vokal und Satzzeichen in die ursprüngliche Konsonantenschrift), aber der Rechtgläubige glaubt an die perfekte Unveränderlichkeit.

      1. Mutiert Overton jetzt namenstechnisch nicht unpassend zur Musiktauschplattform? Cool! Ich decke schnell mal die Metal-Front ab. Zu Bronski Beats “Smalltown Boy” gibt es nämlich was. Nein, nicht vom Pharmaoger Ratiopharm, sondern ein Cover von ShannoN.

        Ansonsten, sachdienliche Cover zu anderen Popsongs. Das Hause Ruber empfiehlt heute Sirenia mit dieser Version von „Voyage Voyage“ und Within Temptation mit „Summertime Sadness“. Oder wie es in den Kommentaren zu letzterem heißt: „My metal side and my girly side are in peace.“ Perfekt!

  3. Musste erst mal wikipeden, um dieses Wort zu verstehen (Ausschnitt):
    Kapitalsorten sind nach Pierre Bourdieu die vier zu unterscheidenden Bestandteile des Kapitals einer Person:

    Soziales Kapital
    Ökonomisches Kapital
    Kulturelles Kapital
    Symbolisches Kapital
    Affektives Kapital[1] (nicht von Bourdieu, sondern von Sauer/Penz) ergänzt Bourdieus Konzept.

    Kapitalsorten entscheiden über die Position des Inhabers in der Klassengesellschaft, über die Platzierung im sozialen Raum:

    Die Kapitalsorten Ökonomisches Kapital, Kulturelles Kapital und Soziales Kapital bilden zusammen das Kapitalvolumen. Dieses lässt sich in einer zweidimensionalen Grafik als die vertikale Achse darstellen, während auf der horizontalen Achse die relative Ausrichtung nach ökonomischem und kulturellem Kapital dargestellt wird. Mit einer dritten Achse, der Zeitachse, kann die Akteurslaufbahn (Soziale Herkunft und Biografie) festgehalten werden. Diese drei Achsen bilden den sozialen Raum.

    Kapitalsorten lassen sich ineinander umtauschen, allerdings sind dieser Konvertierbarkeit Grenzen gesetzt.

    1. Liebe Mitmenschen, es gibt zu jedem Thema vielfältige Auskünfte, die man über Recherche finden kann. Ich stelle das jetzt mal hier in den Raum: “wikipedia” (D) ist nützlich, wenn man nachsehen will, wann und wo Katharina die Große von Russland geboren ist.
      Was von der Weisheit der deutschsprachigen Wikipedia zu halten ist, erhellt ” http://wikihausen.de/ ” . Dies sei hier jetzt mal eingewendet, denn wikipedia leistet zwar im MINT-Sektor gute Dienste, alles was gesellschaftlich bedeutsam ist, kann man aber vergessen. Ich erlaube mir diesen Hinweis, weil ich den von M. Fiedler enttarnten Fachmann für den Nahen Osten “Feliks” persönlich kannte (Vergangenheit, weil ich mit ihm nicht das Geringeste zu tun haben will).
      Die deutschsprachige Wikipedia mit dem Untertitel “Die freie Enzyklopädie” ist ein in hohem Maß ideologisch geprägtes Produkt, das dem Anspruch einer Enzyclopädie nicht gerecht wird. Jeder, der auch nur über Anfängerkenntnisse des Englischen verfügt, wird besser bedient, wenn er den Begriff in wikipedia (D) sucht und dann als “Ausgabesprache” Englisch anklickt.
      Wem es um reine Wortbedeutungen/-verwendungen im Deutschen geht, dem empfehle ich “dwds”.
      Darüber hinaus das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM) [ : http://inkrit.de/neuinkrit/index.php/de/publikationen/hkwm ] Leider erst bei Band 9/II HKWM 9/II: Mitleid bis Nazismus angelangt.

      1. Danke Christa Meist, ist mir bestens bekannt – schätze die Arbeit von Markus Fiedler und DIrk Pohlmann sehr ;.)

        Unterstützende Grüße
        Bernie

  4. Sofern man nicht dogmatisch ist, sollte man den Erkenntnisgewinn nicht unterschätzen, den man durch das Vertreten einer Meinung erreichen kann. Denn es bedeutet letztendlich die eigenen wahrgenommen Informationen zu einer Aussage zu bündeln. Dabei kommt man nicht umhin die Schwächen der eigenen Erkenntnis, wie auch der Argumente für eine bestimmte Sache zu registrieren. Und seine Meinung dazu entsprechend anzupassen.

    Aus meiner Sicht ist das Argumentieren für und wider, wobei man durchaus unterschiedliche Rollen (Meinungen, Erkenntnisse) einnehmen kann, ein wichtiges wissenschaftliches Werkzeug. Es hilft zu Verstehen, was man bereits meinte zu verstehen, indem man es in eigene Worte und Interpretationen kleidet.

    Nur so am Rande …

  5. Ehrlich gesagt, ich kann das nachvollziehen – ich strebte 1997 ein Studium der Wirtschaftswissenschaften an einer Fachhochschule in Konstanz an, und machte dort die selbe Erfahrung – man ließ mich, und die anderen, die sich via beruflicher Weiterbildung, bei mir vom Hauptschüler über Duale Berufsausbildung bis Fachhochschulreife, für ein Fachhochschulstudium im Management qualifiziert hatten spüren wohin wir gehören – seitens vieler Kommilitonen – damals schon 😉

    Mittlerweile bin ich Rentner, dass Studium damals habe ich abgebrochen, denn 1. fehlte mir (auch damals schon) das Geld zum Weiterstudieren (war die unterste BaföG-Stufe), 2. lies man mich spüren, dass ich nicht dazugehöre (= war in einem Semester mit Management- und Hotelbesitzersöhnchen, sowie sonstigen Abkömmligen von Besserverdienern) und 3. war der neoliberale Marktradikalismus, der sich damals, auch an Fachhochschulen breit machte nicht mein Ding (= Schöner Satz damals, “Einen Unternehmer interessiert nur der Gewinn, alles andere, was ihn am Gewinn machen hindert, hat ihm völlig egal zu sein!” – zynischer ging’s nicht…..

    Ich studierte nie wieder etwas (= weil mir ausser BWL nix einfiel, und ich kein Handwerker war, und eben auch aus der “Unterschicht” stammte – das BaföG zahlte ich selbstverständlich zurück nach abgebrochenem Studium 😉 ), schlug mich anderweitig durch’s Leben (zuletzt als Selbständiger) bis zur Rente, aber die Erfahrung im BWL-Studium nicht dazuzugehören hat mich geprägt – es scheint sich also in den wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen nichts geändert zu haben – auch im Umgang mit Menschen, die aus Arbeiter- oder sonstigen Unterschichtsfamilien (= mein Vater war beides – Bauarbeiter und später, aufgrund Eigeninitiative selbständiger Unternehmer im Tourismusgewerbe) – meine Mutter war Hausfrau, und vorher Servicekraft in einem Hotel).

    Hätte es mir eigentlich allein schon von meiner Herkunft denken können, dass ich in das Studium der BWL (=mit Schwerpunkt Management) nicht reinpasse, aber wie heißt es so schön – hinterher ist man meistens schlauer…..

    Hab mir das Buch mal vorgemerkt, und danke für den Tipp, werde es irgendwann mal kaufen, und lesen 😉

    Gruß
    Bernie

    PS: Ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass ich nicht der einzige – aus “unteren Verhältnissen” war, der das Studium letztendlich abbrach – manche aus ähnlichen Gründen wie ich, da unsere Kommilitonen uns eben spüren lies – inkl. Ausgrenzung von “Lerngruppen” wohin wir gehören – NICHT zu Ihnen *daumenrunter*

    1. Hallo,
      meine Eltern und Großeltern waren Arbeiter und (Nebenerwerbs-) Lanwirte. Es gab sehr viel Arbeit, auch an den Wochenenden und Feiertagen, und keinen Urlaub. Meine Eltern konnten mich schulisch und beruflich nie unterstützen, auch finanziell nicht, weil ihnen der dafür notwendige Hintergrund fehlte, Wir hatten auch kein “Vitamin B”. So mußte ich mich immer alleine durchschlagen bzw. hocharbeiten. Kein Gymnasium sondern Realschule, kfm. Lehre, Abi über 2ten Bildungsweg, 2 Jahre Bundeswehr statt 15 Monate wegen des Geldes, BWL-Studium an einer Fachhochschule (und danach Bafög zurückzahlen). Es gab noch viele unter meinen Kollegen/innen, die aus dem gleichen Milieu (“unteren Verhältnissen”) kamen. Ich habe dazu gehört, wir haben dazu gehört – und hatten eine schöne Zeit. Klar gabe es auch die Kinder aus bürgerlichem Hause und aus Unternehmerfamilien, die es – schon finanziell – deutlich einfacher hatten als wir. Aber dennoch gehörten sie, zumindest die meisten, auch zu uns und wir zu ihnen. Unsere Herkunft hat nicht wirklich interessiert und war kein Grund für “Ausgrenzung”. Auch hätte ich mich nie aus dem Studium ausgrenzen lassen und es aufgegeben. Und das gilt auch für meine Freunde. Klar war der Weg für uns Arbeiterkinder schwerer und steiniger, aber wir haben ihn erfolgreich bewältigt. Nun frage ich mich tatsächlich, was bei mir, bei uns, besser gelaufen ist und vor allem warum?!

  6. Die Limitierungen, die man erfährt, wenn man aus einer sog. unteren Schicht stammt, sind heute wahrscheinlich noch einschränkender als vor ca 40- 50 Jahren.
    Damals gab es die immerhin die Bildungsinitiative der SPD und man konnte die ungenügende Herkunft noch bis zu einem gewissen Grad kompensieren, durch angeeignetes Wissen und Können.

    Heute zählt das wenig(er), wie man schön am Ausbildungs – und Wissensstand unserer politischen Eliten sehen kann. Was heute zählt, ist der Habitus, das zur Schau getragene Überlegenheits- und Herrschaftsgehabe. Diesen Habitus kann man schlecht erlernen, er muss mit der Müttermilch eingesogen werden.

    Das war früher ab einem gewissen Level nicht anders, aber zumindest bis in die mittleren Ebenen konnte man auch als Arbeiterkind aufsteigen.
    Aber selbst dafür zahlte man den bitteren Preis der Entfremdung, von den eigenen Eltern, ja der ganzen eigenen Verwandtschaft, von der man oft zu hören bekam man wolle ja nur etwas Besseres sein. Es gab einfach keine gemeinsamen Interessen mehr. Das führte sehr früh zu einer emotionalen Vereinsamung. Man musste sich all die verlorenen Beziehungen mühsam mit Fremden neu aufbauen. Meist gelang das nur mit Gleichaltrigen.

    Was völlig fehlte, waren wohlwollende und einflussreiche Ältere, die die Rolle eines Couch oder Mentors hätten einnehmen können. Da hatten Kinder aus gebildeten und/oder reichen Elternhäusern einen Riesenvorteil.

    In meinem Falle war es mir nicht gelungen, die Entfremdung gegenüber meinen Eltern aufzuheben, bis zu ihrem Tod nicht. Heute, selbst im Ruhestand, empfinde ich das als einen traurigen Verlust, eine tief in der Psyche sitzende Hohlstelle.

    Mit meinen Geschwistern ist es ebenfalls mühsam, über das small talk Niveau und Gespräche über Krankheiten hinaus zu kommen.

    Kurz gesagt: Einsamkeit und Entfremdung sind der Preis, den Arbeiterkinder auch nur für einen mittleren Aufstieg, bezahlen müssen

    1. Ihrer Zusammenfassung stimme ich aus eigener Erkenntnis zu. Vor allem was den mittleren Aufstieg und das Gefühl von Einsamkeit angeht. Bezüglich der Einsamkeit: ich hab mich gefragt, ob dieser Eindruck nicht vielleicht doch eher auch einer individuellen Prägung entspringt, die nicht oder nur wenig mit meinem Arbeiterkinddasein zu tun hat. Eine endgültige Antwort darauf habe ich natürlich nicht gefunden. Dieses Unwissen aber wie folgt lebenspraktisch übersetzt: ich fordere nichts bis wenig von meinen Verwandten. Sie halten mich sowieso für einen leicht komischen Vogel. Also spreche ich in einer klaren kurzen Sprache ohne jede Ausstrahlung intellektueller Überheblichkeit,die mir sowieso nicht zusteht. Das funktioniert mittelprächtig, Aber immerhin! Meine Frau hat übrigens anders als ich einen „Migrationshintergrund“, Den trägt sie nie offensiv vor sich her. Aber meint auch daraus ein Entfremdungsgefühl zu haben. Will sagen: alle die, die sich „irgendwie zwischen den Stühlen“ fühlen, haben nicht selten auch die Fähigkeit, sich selbst nicht ganz so wichtig zu nehmen. Und durch eine gewisse Empathiebegabung einen Scharnier zu bilden zwischen Gruppen, die sonst eher wenig miteinander zu tun haben. Solche Menschen braucht diese Gesellschaft. Das kann man auch als persönlichen Erfolg verbuchen, auch wenn es dafür wenig bis keinen klassischen Lohn gibt wie Geld oder Karriere. Ich bin Jurist und arbeite mit einigen Beamtenkindern in einem größeren Unternehmen. Meine „Karriere“ ist dabei auf halbem Wege steckengeblieben. Aber viele Kollegen, die keine Juristen sind, spiegeln mir oft, das ich der Einzige sei, der die Dinge klar und verständlich rüberbringt. Auch das eine Form von Lohn. Die bringt mir zwar kein Geld und keine Macht, aber doch ein gewisses Selbstbewusstsein. Als Mensch und auch als Arbeiterkind.

      1. Vielen Dank für Ihren klugen Kommentar!

        Ich kann da Vieles sehr gut Nachvollziehen.
        Als Naturwissenschaftler im Mittelbau habe ich Seminare und Praktika veranstaltet und mit Diplomanden und Doktoranden in meinen Forschungsprojekten gemeinsam im Labor experimentell gearbeitet. Diese Arbeit mit den jungen Leuten hat mir viel Freude bereitet. Es war großartig, einige sehr kluge junge Leute dabei zu begleiten, wie sie ihre Fähigkeiten entfalten konnten. Zu einigen von ihnen habe ich heute noch Kontakt.

        Alle, die in meinen Projekten einen akademischen Abschluß gemacht hatten, fanden ohne Probleme gute Anstellungen, in der Industrie oder an einer Uni, im Inland und auch im Ausland. Das gelang ihnen allen aus eigener Kraft, da ich wenig Einfluß auf solche Dinge hatte. Es half allenfalls, dass wir gemeinsame gute Publikationen in angesehenen Journalen hatten, die auch gelesen wurden.

        Ich hatte Phasen, wo ich (leider) auf persönliche Anerkennung angewiesen war. Diese erhielt ich auf Meetings und aus zwei internationalen Kooperationen, die ich mit Gruppen in Schweden und in Italien hatte, wo meine inhaltliche Arbeit im Vordergrund stand.
        In meinem Institut und aus Kreisen der deutschen Professorenschaft erfuhr ich geradezu Feindschaft, da es mir gelang, meine gut bewerteten Projekte aus finanziellen Töpfen zu finanzieren, die sie als für sich reserviert ansahen.

        Nun, im Ruhestand habe ich all das hinter mir gelassen, schaue nur noch gelegentlich im Netz, was meine früheren Kooperationspartner, die noch aktiv sind, heute so veröffentlichen.

        Habe nun mehr Zeit, die politische Entwicklung zu verfolgen. Sehe hier in meinem Bekanntenkreis aber, dass mit entsprechendem Gehabe vorgetragene Regierungs- und Medien-Meinungen vorherrschen und selbstständiges kritisches Denken mit Misstrauen betrachtet wird.
        Man kann da schnell zum ”
        komischen Vogel” oder gar zum Aussenseiter werden.

        Aber unsere Gesellschaft braucht Aussenseiter. Gerade jetzt, in einer Zeit, wo der politische Anpassungsdruck immer größer wird.
        Freilich wäre es für meinen Blutdruck besser, ich würde mich aus manchen Diskussionen raushalten.
        Aber seine Überzeugungen sollte man nicht aufgeben nur weil politischer Druck aufgebaut wird.
        Die kämpferische Tradition sollte in uns Arbeiterkindern weiterleben.

  7. Das ist ja schräg. Ich habe im letzten Jahre genau diese drei Autoren in der gleichen Reihenfolge gelesen.
    Und dann bin ich auch noch ein Arbeiterkind. Sachen gibts. 😉

  8. Mein Scheitern ist kein persönliches Versagen oder gar eine Frage mangelnder Begabung, sondern auf meine Mittellosigkeit in mehrfacher Hinsicht zurückzuführen.

    Okay, ich bin jetzt nicht so ganz mitgekommen, aber warum ist der Protagonist bitteschön „gescheitert“? Weil er Arbeiterkind ist? Weil er Soziologievorlesungen besuchte? Bedeutet Mittellosigkeit eigentlich automatisch Scheitern? Für wen bedeutet es scheitern konkret? Für unsere ach so geliebte wie rechts-versiffte Gesellschaft, die sich mehrheitlich nur über die großen Ks definiert (Karriere, Kohle, Köter, Klitsche, Karre, Klamotten, Kurzweil, Kunst, Konsum und Kinder)? Fragen über Fragen!

    Ich meine auf der einen Seite hat der Autor ja einen Punkt, wenn er das Gewäsch von „mangelnder Begabung“ und „persönlicher Verfehlung“ kritisiert, dass die Rechten immer anbringen, wenn sie sich über Arme, Arbeitslose und Co. mokieren. Andererseits scheint er selbst von ihrer Ideologie durchdrungen, wenn er so einen Satz formuliert. Klar, so was wird überall angebracht und Arbeiter(kinder) gezielt fertiggemacht – aber, dass er das so einfach stehen lässt… naja. Man sollte das Gewäsch lieber intensiv auseinandernehmen und ihm entgegentreten, aber vielleicht wird das an einer anderen Buchstelle ja aufgegriffen.

    aufgeblasenen jungen Männer vor dem Gebäude der Wirtschaftswissenschaften und die schwarzgekleideten Leute im Philosophencafé.

    Ich mag BWL-Justusse (und -tussies) wie auch Wokisten, die auf Existenzialisten machen, aber bestenfalls zum Sartre für geistig Arme mutieren, ja auch nicht, aber die Passage wirkt jetzt doch etwas klischeehaft. Jaja, ich höre das Forum schon: „Altlandrebell, bemüht doch selber gerne Klischees! Gerade wieder!“ Geschenkt.

    Ich versuche mich mit meinen Kommilitonen anzufreunden, aber schon nach wenigen Minuten nehme ich nicht länger an ihrem Gespräch teil, sondern werde zu einem Beobachter.

    Und das klingt in den Worten der Jugend von heute formuliert doch etwas „creepy“. So eine Mischung aus Konrad Lorenz meets Götz Eisenberg. Letzterer übrigens auch so ein „Gefallener“ der letzten Jahre. Hatte einst schöne Analysen zu Amokläufen und detaillierte Gesellschaftskritiken am Start; während des Pandemieregimes dann nur Hetze gegen Maßnahmengegner, Ungeimpfte oder später eben gegen „Russlandversteher“. Bei Wokepolis hat er neulich die ach so armen Grünen verteidigt. Ansonsten vor allem Kritik an lauten Nachbarn, kackenden Hunden und dass es so kalt sei. Ja, danke dafür. Früher war bei ihm wirklich mehr Lametta.

    Abgesehen davon: Ich verstehe auf was der Autor hier hinaus will und die Hürden, die einem als Arbeiterkind an Hochschulen begegnen, gerade bei dem Milieu, dass sich heute dort herumtreibt, sind enorm hoch. Da werden einem nicht Steine in den Weggeworfen, sondern halbe Gebirge. Ging mir in meiner Zeit auch ähnlich und auch mein heutiger Freundes- und Bekanntenkreis setzt sich heute überwiegend aus Menschen zusammen, die entweder nicht studiert haben oder dies vor Äonen taten, als die „Unis“ noch Universitäten und ihre „Studis“ waschechte Studenten waren. Aber dass man so gar niemanden dort trifft, mit dem man ein längeres Gespräch führen könnte ohne zum bloßen Gänsebeobachter zu werden…? Weder Student noch Dozent?

    Wie in den Seminaren haben fast alle eindeutige Meinungen und verteidigen diese mit Überzeugung. Während ich meine Antworten abwäge und in Gedanken formuliere, reden sie einfach drauflos.

    Bei mir war es eher andersrum. Die meisten Leute waren verdruckt und intellektuell überfordert. Ihre Optionen waren in letzterem Falle zwecks Erwerb guter Noten: Hochschlafen (für Männer eher schwierig), reiche Eltern (nicht für alle gegeben), Abschreiben (gefährlich), Bulimielernen und Anpassen, sowie Pech. In den Seminaren an sich dominierten die Woken oder handelsüblichen Neoliberalen vom Format der vorhin genannten BWL-Justusse, die ihre Ideologie anpriesen, den Dozenten Honig ums Maul strichen. Und dann gab es Altlandrebell, dem das irgendwann auf den Senkel ging, sowie ggf. ein bis zwei Mitstreiter, die versuchten den Sermon zu unterbrechen, weil man eben in einem Seminar und nicht in einer Kirche vor der Kanzel war. Meistens wurden wir aber zum Glück des Seelenheils der Studis vom Dozenten abgewürgt. Im heutigen System ist in Seminaren – zumindest an meiner Alma Mater – die Diskussion aus Bulimielern- und Rationalisierungsgründen ohenhin auf max. 15 Minuten am Ende beschränkt und hat strikt dem etabliertem Meinungskorridor (neoliberal / transatlantisch / identitär) zu folgen. Ich wurde also von den Mehrheitsstudenten vor allem deshalb scheel angesehen, weil ich schamlos und flegelhaft die Sakramente der herrschenden Lehre besudelte und erst in zweiter Hinsicht, weil ich aus der Arbeiterklasse stamme. Letzteres könnte gleichwohl aber dazu beigetragen haben, dass ich das Maul aufriss, denn zumindest in meinen Herkunftsbreiten wird gerne mal Tacheles geredet.

    Noch eine kultische Anekdote am Rande: Ein Referat, indem ich die fortdauernde Bedeutung des Neorealismus am Beispiel von „Stabilisierungseinsätzen“ in Sahel sowie den EU-(Fr)Osterweiterungsversuchen (Ukraine / Georgien) aufzuzeigen versuchte. War im Januar 2013, Opération Serval rollte frisch an und Leia Organa, pardon Julia Timoschenko, wartete noch auf ihren Lazarus-Moment. Und der Dozent: „Waltz und Mearsheimer sind veraltet! Das trägt nicht zum Verständnis bei, das ist krude Lehre! Benutzen Sie die bloß nicht mehr, Altlandrebell, die braucht zukünftig kein Mensch mehr!“ Ja, an eurer „Uni“ braucht die keiner mehr, aber nicht wir in der Wirklichkeit. Und „krude“ – wenn ich das Wort schon höre, bekomme ich Krieselkrätze!

    BTT: Ich bin etwas zwiegespalten, ob ich mir das Buch (Stückpreis schlappe 20 €) zulegen sollte. Irgendwie habe ich das alles schon besser formuliert gehört und eben weniger klischeehaft. Beispielsweise bei Christian Baron. Aber das ist vielleicht nur mein Empfinden am heutigen Abend und nehmen Sie es bitte nicht zum Gebet.

    Ansonsten – das Thema ist und bleibt topaktuell und ich erkenne mich in vielen Punkten wieder. Bin wie gesagt auch Arbeiterkind, hatte sogar von Grund- bis Hochschulabschluss nur Topnoten zuzüglich der Förderung durch ein bekanntes Begabtenförderwerk und zwei Sonderpreise und bin trotzdem arbeitslos. Vermutlich bin ich aus Perspektive des Autors also „gescheitert“. *gacker*

    1. “Gescheitert” ist doch nur euphemistisch für “vom System ausgespuckt”.

      Daß Sie, Altlandrebell so widerborstig waren dürfte mit ihrer Perspektive als Neuling in der gleichgebürsteten Uniwelt zusamengehangen haben. Die anderen Studenten sind ja ihr ganzes Leben in der neoliberalen Meinung aufgewachsen. Die kennen nichts anderes.

  9. Die Debatte hier zeigt für mich vor allem: Es gibt deutlich mehr Individuen als Menschen, die eine Statistik als Angehörige von “….” ausweist.
    Es ist beschwerlich, sich im eigenen Leben als leidlich autonomes Individuum zu erweisen, ganz gleich welchen “Standes” man ist.
    Vielleicht ist die Hoffnung darauf, man möge als Individuum integriert werden sogar der Ursprung des “woken” Irrtums. Jeder Mensch um dessen Anerkennung man sich bemüht, hat das Recht einem diese zu verweigern. Die Beweggründe werden selten offen genannt. Man kann solche erbitten. Da man aber in niemandes Kopf hineinsehen kann, kann man auch kein Urteil fällen, ob die Antworten der Wirklichkeit entsprechen, “ehrlich” sind. Dabei geht es nicht um `ehrliche Identität´, sondern um den Stand des Nachdenkens über sich selbst, der von Interesse ist – und der demnächst möglicherweise ein anderer sein wird. Mensch lernt ja. Nicht immer das, was andere von ihm erwarten.

  10. Interessantes Thema, auch mein Thema. Arbeiterkind. Geboren in den 1950ern. Alles fest betoniert, die ganze Gesellschaft, überall noch Kriegskrüppel und Ruinen. Arbeiter war man damals noch fürs ganze Leben. Meine Eltern sind da nie rausgekommen, wollten sie auch nicht, sie waren zufrieden – zumindest später, als es auch den Arbeitern besser ging. Mein Vater (Kriegsteilnehmer – zehn Jahre mit Gefangenschaft) sagte, dass es dem Arbeiter noch nie so gut ging, denn nun hatte er sogar ein Badezimmer. Das mussten wir aber damals noch mit einer anderen Familie teilen. Aber für ihn war es Fortschritt. Und dann wollte er natürlich auch, dass es seinen Kindern einmal besser geht. Ich sollte aufs Gymnasium, der erste überhaupt in der Familie, ja sogar in der ganzen Straße. Und auch die erste Generation, die kein Schulgeld mehr bezahlen musste. Sonst wäre es nicht gegangen. Von da an aber war ich der Professor und gehörte nicht mehr so richtig dazu. Die einen hielten mich für eingebildet, die andern dachten, ich müsste eigentlich eingebildet sein oder zumindest, mehr als ich war. Und ich selbst wusste gar nicht mehr, was ich war. Zu denen am Gymnasium gehörte ich nicht so richtig dazu. Die meisten waren Kinder von Akademikern: Lehrer, Ärzte, Anwälte. Oder sie waren Kinder von Reichen, bzw Neureichen. Die waren damals groß in Mode. Sie waren nicht so richtig akzeptiert bei jenen, die Abitur und studiert hatten. Man hielt sie doch immer noch für sehr ungebildet, keiner von uns, niederes Niveau. Da kam die alte Nazi-Mentalität immer noch kräftig durchs neue Gewand. Aber diese Reichen spendeten schon mal einen Barren oder Ähnliches, wenn der strohdumme Sohn das Klassenziel nicht zu erreichen drohte.
    Mein Vater war arm, er konnte keinen Barren spenden. Ich musste sehen, wie ich über die Runden kam. Nicht dass ich blöder gewesen wäre als die anderen, aber das war mir alles fremd, das Denken, deren Sprache, die Ansichten und Umgangsformen, vor allem aber die Realitätsnähe oder besser Realitätsferne. Bei den mathematischen Spielereien wie binomische Formeln fragte ich mich immer, wozu das gut sei. Ich hoffte in meinem Alltag, damit etwas anfangen zukönnen. Gabs aber nicht. Womit konnte ich mit meinem Wissen meinen Eltern im Alltag nützlich sein? Mit nichts. Ich sah, dass sie sich abplagten, um uns Kindern ein gutes Leben zu bieten. Sie sparten sich sicherlich auch vieles vom Munde ab. Als mein Bruder dann mit 14 Jahren eine Lehre als Buchdrucker machte, brachte er schon Geld mit nach Hause und machte sich nützlich. Ich kostete nur und mein Wissen war zu nix nutze. Wenn ich meinem Vater bei irgendwelchen handwerklichen Arbeiten half, versuchte ich mein Wissen anzuwenden. Ich musste merken, dass er es mit seiner Erfahrung schneller und genauer fertigbrachte als ich mit meinen einfachen Formeln. Noch heute gilt meine Hochachtung der Erfahrung, dem Wissen jener Menschen, das sie sich in Jahrzehnte langer Arbeit erworben haben, und das heute von den meisten (jüngeren) Menschen gegenüber dem halbgaren Wissen im Internet gering geschätzt wird.
    Wie auch andere hier schon sagten, man lebte in zwei verschiedenen Welten und in keiner war man mehr richtig zu Hause. Auch ich kannte diese Vereinsamung, weil es niemanden gab, der dieses Problem verstand. Man hielt mich für eingebildet, weil ich mich zurück gezogen hatte. Aber das war Ratlosigkeit. Meine Eltern konnten mir nicht helfen. Sie verstanden es nicht. Und so versuchte man und lernte es nach und nach, mit allem alleine fertig zu werden. Das war schwer als junger Mensch, da man ohnehin sich in allem unsicher fühlt und dann auch noch diese Unsicherheit der Einsamkeit. Das hat geprägt für das ganze Leben. Auch wenn man heute vieles besser versteht, auch erkennt, dass man sehr vieles falsch gedeutet hat, aber diese Verhaltensweisen sind geblieben, weil sie sich bewährt hatten und halfen, gut durchs Leben zu kommen, zumindest durch jenes Leben, das man für sich angenommen hatte. Aber es war ein Leben, das durch sehr viel Unsicherheit geprägt war, und erst sehr spät aus der Unsicherheit die Kraft des Lernens und Erkennens entwickelte. Die Unsicherheit führte zu einer Haltung, dass nichts selbstverständlich ist und vieles hinterfragt, durchdrungen werden muss, dass man den Dingen auf den Grund gehen muss. Das ist die Haltung, die geprägt wurde durch die Praxisnähe, durch den handwerklichen Umgang mit der Welt. Entweder das Auto sprang wieder an oder nicht. Entweder der Lichtschalter funktionierte oder nicht. Da gab es nichts zu deuteln oder schönzureden, wie ich es später in diesen intellektuellen Kreisen erlebte. Und wenn es nicht funktionierte, das Auto doer der Lichtschalter, dann half alles nichts, man musste den Dingen auf den Grund gehen und die Ursache suchen und finden. Da halfen keine schlauen Theorien weiter, keine Rechthaberei, keine intellektuelle Verwirrung. Entweder es klappte oder es klappte nicht. Entweder die Wirklichkeit gab einem recht oder nicht. Denn die Wirklichkeit lässt sich nicht bequatschen. Das ist die Lehre aus meiner Herkunft als Arbeiterkind. Es waren lange Lehr- und Wanderjahre. Aber am Ende waren sie erfolgreich. Der wunsch meiner Eltern ging in Erfüllung. Ich hatte es besser als sie. Leider haben sie es nicht mehr erleben können und ich es ihnen nicht mehr danken können. Das tut mir heute noch weh, wo ich dieses hier schreibe.
    Aber ich bin überrascht, dass es allein hier so viele gibt, die einen vergleichbaren Werdegang haben. Wer mit mir weiter sich darüber austauschen will: rueruerue@web.de
    Es könnte vielleicht hoch interessant sein.

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