Vater und der Krieg

Wehrmachtssoldaten ergeben sich.
Johannes Dorn, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Der Vater des Autors Sebastian Schoepp war Soldat im Zweiten Weltkrieg. Noch Jahre später prägten ihn die Erfahrungen aus dieser Zeit.

Ein Buchauszug.

An sichtbaren Zeichen hatte Vater aus dem Krieg mitgebracht: die handtellergroße Narbe einer Granatsplitterverletzung an der Schulter, einen Leistenbruch, den er sich beim Bäumeschleppen in Russland zugezogen hatte, sowie einen Koffer aus Hartpappe. Den fand ich als Halbwüchsiger auf dem Dachboden und benutzte ihn, um Schlagzeugstöcke und anderen Musikkram darin aufzuheben. Das war 1980, und ich hatte angefangen, in einer Band zu trommeln. Das war damals für einen Sechzehnjährigen eine ebenso wenig ungewöhnliche Beschäftigung wie 36 Jahre später. Keller oder Garagen, in denen man die ersten Akkorde probt, gehören zu einer kollektiven popkulturellen Erfahrung, die inzwischen mehrere Generationen von Vätern mit ihren Kindern teilen können.

Keine Antworten, keine Fragen

Ein großartiges Buch!

Vater und ich hatten keine solche Gemeinsamkeit. Wenn er 1980 daran zurückgedacht haben mag, was 36 Jahre vorher passiert war, so landete er nicht in einem Übungskeller oder einer Disco, sondern in einem Wald bei Brody, Ukraine. Dort irrte er im Sommer 1944 durch Birken und Himbeersträucher, von denen er sich Früchte abrupfte, um seinen Hunger zu stillen. Ein 21-Jähriger mit Kindergesicht und Bartflaum, verloren, allein, verängstigt, statt eines Musikinstruments eine Wehrmachtspistole in der Hand. In deren Magazin steckte noch eine Kugel. Die hatte er für sich selbst aufgehoben.

Solche Sachen hat Vater erst ganz spät erzählt, wenn ich an seinem Krankenbett saß und die Demenz einen Schlitz in den Schleier des Schweigens riss, den er sich selbst in den Jahrzehnten zuvor auferlegt hatte. Praktisch alles, was im Krieg passiert war, abgesehen von ein paar Anekdoten, hatte er weggesperrt, eingekapselt, verdrängt, siebzig Jahre lang.

Das Prägende, wahrscheinlich Traumatische, das er als junger Mensch im Krieg erlebt hatte, blieb außerhalb meiner Vorstellungskraft.

Hatte er Menschen erschossen?

Was fühlt man im Angesicht des Todes?

Kann man je Frieden schließen mit solch einer Erfahrung?

Keine Antworten, keine Fragen. Ich hatte das akzeptiert – bis zu dem Moment, da Vater pflegebedürftig wurde. Die Krankheit brachte die Todesangst zurück. Plötzlich tauchten Bilder vom Krieg am Krankenbett auf, sogenannte Flashbacks, an die der Leidende sich nicht im strengen Sinne erinnert, sondern die er jedes Mal neu durchlebt, wenn ein äußeres Ereignis die knarzende Tür im Gehirn aufstößt.

Berge voller Leichen habe er gesehen, stammelte er im Krankenbett.

»Was für Leichen? Wann?«, fragte ich hilflos.

»Im Winter 45.«

Wo? Keine Antwort.

Die emotionale Abkapselung der Kriegsgeneration ist ausgiebig erforscht. Laut Autoren wie Sabine Bode, Luise Reddemann, Udo Baer und Gabriele Frick-Baer sind die Unfähigkeit zu fragen und die Unfähigkeit zu reden zwei Seiten derselben Medaille. Viele Eltern erzählten nichts, um den Kindern grausame Dinge zu ersparen. Und umgekehrt fragten Kinder ihre Eltern nichts, weil sie das Gefühl hatten, sie müssten sie vor ihren Erinnerungen schützen. Die Psychiaterin Luise Reddemann leitet daraus die »sprichwörtliche Sprachlosigkeit in deutschen Nachkriegsfamilien« ab.

Krankheit als Überlebensstrategie

Nur von Zeit zu Zeit schafften es bei Vater Anekdoten an die Oberfläche. Aus vielen dieser Geschichtchen, die er im Laufe seines Lebens erzählt hatte, konnte ich mir ein Bild zusammensetzen, aus dem man schließen musste, dass Vater als Soldat eher unbegabt war. Als Kanonier beschoss er wegen eines Rechenfehlers die eigene Einheit, er wurde zur Infanterie versetzt, dort verbummelte er beim Waffenreinigen die Sprungfeder einer tschechischen Beutepistole, mit der er sich nicht auskannte. Man warf ihm Sabotage vor, was aber ohne Folgen blieb, wohl weil man ihn für harmlos hielt. An der Front auf Wache schoss er im Dunkeln wahllos auf die Geräusche klappernden Kochgeschirrs und löste damit eine mittlere Feldschlacht aus. Von diesen immer wiederkehrenden Erinnerungsschnipseln abgesehen, lebte Vater wie der Großteil der deutschen Kriegsgeneration nach dem Motto, das Walter Kempowski in einem Roman formuliert hat: »Ohne Schwamm-drüber läßt sich das Leben nicht ertragen.« Verdrängen wurde zur Überlebensstrategie.

Erst Jahre später, nach seinem Tod, ging ich der Frage tiefer auf den Grund, was hinter seinen Anekdoten stecken, was Vater im Ganzen erlebt haben mochte. Ich stellte Rechercheanträge beim Wehrmachtsarchiv in Berlin und beim Roten Kreuz in München, das Zugriff auf die Kriegsgefangenenakten aus Moskau hat. Es war, um offen zu sein, ein madiges Gefühl, dem eigenen Vater nachzuspionieren. Auch wenn die freundliche Dame vom Wehrmachtsarchiv tröstend versicherte: »Sie sind da beileibe kein Einzelfall.« Doch war es nicht irgendwie erbärmlich, posthum herausfinden zu wollen, was man sich im Leben nicht zu fragen getraut hatte? So war diese Suche letztlich auch die Suche nach dem Urgrund der eigenen Feigheit.

Die Unterlagen schufen einen historischen Rahmen für Vaters spärliche Erzählungen. Das Übrige taten Feldpostbriefe, die er an seine Familie in Berlin geschrieben hatte und die ich in einem Schrank im Arbeitszimmer aufstöberte. Sie legten den Schluss nahe, dass Vaters Kriegserlebnisse insgesamt alles andere als anek­do­tisch gewesen waren.

Vater wurde 1942 eingezogen. Das erste Foto in Wehrmachtsuniform zeigt einen zarten, schüchtern dreinblickenden Neunzehnjährigen mit hellen Augen, dünnem Haar, feinen Zügen, eher ein Junge als ein Mann. Nach der Ausbildung sollte er 1943 an die Front, doch die ersten Monate verbrachte Vater fast ausschließlich im Lazarett – wegen einer Diphtherie, die er sich in Brest-Litowsk eingefangen hatte. Diese Infektionskrankheit verlief vor Erfindung von Antibiotika häufig tödlich, als Medikament hatte man im Krieg nichts Besseres als das vermeintliche Wundermittel Salicylsäure – besser bekannt unter dem Markennamen Aspirin. Man brauchte allerhand Zähigkeit, um eine Diphtherie ohne stärkere medikamentöse Hilfe zu überwinden. Aber die Infektion ersparte ihm Fronteinsätze. Hatte er daraus im späteren Leben unbewusst abgeleitet, dass Krankheit eine Überlebensstrategie sein konnte?

Sebastian Schoepp

Sebastian Schoepp, geboren 1964, hat Kommunikationswissenschaften, Romanistik und Amerikanistik in München sowie Journalismus in Barcelona studiert. Er hat beim »Argentinischen Tageblatt« in Buenos Aires volontiert und viele Jahre lang als Redakteur der »Süddeutschen Zeitung« über Spanien und Lateinamerika berichtet. Außerdem war er als Dozent an der Universität Barcelona tätig. Bei Westend sind seine Bücher »Das Ende der Einsamkeit«, »Mehr Süden wagen« und zuletzt »Seht zu, wie Ihr zurechtkommt« erschienen, in dem es um die Pflege und den Abschied von seinen Eltern geht. Der Autor lebt im Kreise seiner Wahlfamilie in der Nähe von München.
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11 Kommentare

    1. Aktien sind keine realen Werte. Entscheidend ist, daß die Gelder weiterhin sprudeln sollen. So lange die Politik die Milliarden bereitstellt, ist deren Geschäft leider super.

  1. der Fluch der 4. Generation: die Omerta des Grauens

    – mein Opa war einer der ganz wenigen, der mir über seine Erlebnisse im WK2 berichtete. wie sie durch die Lande ziehen mussten, kein zuhause, Vater im KZ längst ermordet, Mutter Kommunistin (die rote Else). krumme Geschaeffte machen, klauen, allgegewaertige Gewalt –

    als Bastard und Rassenschandbalk blieb meinem Opa die Traumatisierung durch Mordstüchtigkeiten erspart und so erzählte er von seinen Erlebnissen und ermöglichte mir ein Fenster in diese Zeit. – die meißte Menschen handeln gut deutsch: runterschlucken, weitermachen, i-wann geisteskrank werden. DAS ist die Saat der erneuten Katastrohpe, die in der 4. Generation erneut diesen Prozess initiert.

  2. Ich hatte mal „das Glück“ die Briefe eines Angehörigen zu lesen, der als Soldat an der Ostfront war und dann am Ende in russischer Gefangenschaft gestorben ist.
    Das sind wichtige Zeitzeugnisse ohne die es kaum möglich ist zu verstehen was und warum es geschah.
    Die Briefe fangen mit großer Euphorie und Überheblichkeit an als sie mit dem Zug durch Polen Richtung Front gereist sind. Er war wirklich der Meinung Teil einer besseren Rasse zu sein.
    Enden tut es dann damit, dass er sich mehr und mehr von seinen Kameraden abgesondert hat und für diese nur noch Ekel empfand. Sein ganzes Weltbild stand am Ende auf dem Kopf. An dem Punkt hören die Briefe dann auch leider auf und ich weiß nur von den Erzählungen anderer, dass er in russischer Kriegsgefangenschaft gestorben ist.

  3. Mein Vater kam mit einer Granatsplitterverletzung am Oberschenkel aus Russland ins heimische Lazarett. Nach Kriegsende musste er sich nochmals melden und kam für Wochen auf die Rheinwiesen. Als ich von dem Leid der Bevölkerung in Leningrad erfuhr, war ich froh das mein Vater dort nur Melder auf einem Motorrad gewesen war. Von den Menschen in Russland konnte er mir nur Positives berichten. Kriegsspielzeug war in meiner Familie Tabu, das rechne ich ihnen heute noch als absolut gute Entscheidung an. Was die Väter meiner Generation erlebt haben, darf sich nicht wiederholen.

  4. Danke, guter Artikel, passend zum Totensonntag und eine Woche nach dem Volkstrauertag.

    Wer sich für Feldpost interessiert (ich kann das nur empfehlen, Erzählungen aus erster Hand sind von unschätzbarem Wert), es gibt da einige Bücher dazu und eine kostenlose Briefesammlung:
    https://www.briefsammlung.de/feldpost-zweiter-weltkrieg/
    Man kann z.B. rechts einen Zeitraum eingeben und bekommt dann alle passenden Briefe des Archivs angezeigt, mit Faksimile.

    Hier findet man auch welche und zusätzliche Informationen:
    http://www.feldpost-archiv.de/

    Man darf aber auch nicht vergessen, dass die Briefe zensiert wurden:
    http://www.feldpost-archiv.de/11-zensur.shtml
    also nicht immer geschrieben wurde, was man dachte und z.B. wo man stationiert war.

    Mein Opa väterlicherseits war auch als junger Mann im Krieg, erst in Russland, wo er eine Granatverletzung erlitt, dann in Frankreich, wo er in amerikanische Gefangenschaft geriet (was er immer mehr oder weniger positiv erinnerte, weil die nicht hungerten). Leider war ich für tiefschürfende Fragen einfach zu jung damals, so dass ich nur wenig direkt von ihm erfahren habe, bevor er verstarb.

    1. wow, danke für die Links!

      Und bei „ich kann das nur empfehlen, Erzählungen aus erster Hand sind von unschätzbarem Wert“ gehe ich voll mit!

  5. Der eine Opa erzählte nichts , fand auch keine Photos über diese Zeit, der andere erzählte von einem Krieg , vor allem Frankreich, der mit der Ostfront nichts gemeinsam hatte..
    Einmal erzählte er mir von einer Schlacht in irgendeiner Stadt in Frankreich, aber nicht Franzosen , sondern Wehrmacht gegen SS .. o(
    Er war Adjudant irgendeines Generals da ….
    Nur eines war bei allen Erzählungen gleich, Nazi Kollaborateure war der niedrigste Soziale Rang an allen Fronten, zumindest bei den Deutschen selber ..
    Verrat wurde geliebt, aber niemals der Verräter …
    Tja dann die Traumas. Der Krieg ist irgendwann zu Ende, und doch geht Er weiter.
    Kriegstraumas gehen über 7 Generationen, spricht 7 Generationen Kinder erwartet dann oft noch Gewalt, deren Ursachen in einem Krieg zu finden sind ..

  6. Dieser Buchsuszug schildert das heutige Dasein!
    Hier geht es nicht um Wahrheit, sondern über menschliche Entscheidungen, über richtig und falsch.
    Ist diese Menschheit verrückt geworden, das diese ihre Menschheit mehr erkennt?

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