Sachbücher des Monats: Oktober 2022

 

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung präsentiert von DieWelt/Neue Züricher Zeitung/RBB/ORF

1. Jürgen Habermas: »Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik«

Suhrkamp Verlag, 109 Seiten, € 18,00

Kernstück des Buches ist ein Essay, in dem er sich ausführlich mit den neuen Medien und ihrem Plattformcharakter beschäftigt, die traditionelle Massenmedien – maßgebliche Antreiber des »alten« Strukturwandels – zunehmend in den Hintergrund drängen. Fluchtpunkt seiner Überlegungen ist die Vermutung, dass die neuen Formen der Kommunikation die Selbstwahrnehmung der politischen Öffentlichkeit als solcher beschädigen. Das wäre ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit, mit gravierenden Konsequenzen für den deliberativen Prozess demokratischer Meinungs- und Willensbildung.

2. Jürgen Renn: »Die Evolution des Wissens. Eine Neubestimmung der Wissenschaft für das Anthropozän«

Suhrkamp Verlag, 1072 Seiten, € 46,00

Die Evolution des Wissens erzählt in sechzehn Kapiteln die faszinierende Wissensgeschichte der Menschheit. Anhand von Schlüsselepisoden aus der Entwicklung von Wissenschaft und Technik, von der Erfindung der Schrift über die frühneuzeitliche wissenschaftliche Revolution bis hin zu Industrialisierung und Digitalisierung, analysiert Jürgen Renn, wie Wissen entsteht und sich verändert, wie es sich seit Jahrtausenden global verbreitet und auf welche Weise Wissensökonomien und die Gesellschaften, in die sie eingebettet sind, sich wechselseitig beeinflussen.

3. Omri Böhm: »Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität«

Propyläen, 175 Seiten, € 22,00

Ist der Universalismus heute noch zu retten? Ja, aber wir müssen zurück zu seinem Ursprung: Erst wenn wir den humanistischen Appell der biblischen Propheten und Immanuel Kants wirklich verstehen, können wir Ungerechtigkeit kompromisslos bekämpfen – im Namen des radikalen Universalismus, nicht in dem der Identität.

4. Isolde Charim: »Die Qualen des Narzissmus. Über freiwillige Unterwerfung«

Paul Zsolnay, 220 Seiten, 24,00€ – Übersetzt von Michaela Grabinger

Wie kommt es, dass wir uns den Verhältnissen unterordnen? Oder mit Spinoza gefragt: Wie kommt es, dass „die Menschen für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil“? Diese Frage gilt es zu allen Zeiten neu zu stellen, erst recht jedoch in Zeiten von Krisen und Verunsicherungen. Die Antwort heute muss lauten: Es ist der Narzissmus, der Narzissmus als gesellschaftliche Forderung an jeden Einzelnen: Du musst mehr werden, als du bist, du musst zu deinem Ideal werden. Was aber bedeutet es für die Gesellschaft, wenn dieses antigesellschaftliche Prinzip zur herrschenden Ideologie wird? Mit beeindruckender Klarheit erklärt die Philosophin Isolde Charim, was uns dazu bringt, uns freiwillig den „Qualen des Narzissmus“ zu unterwerfen.

5. Oskar Negt: »Politische Philosophie des Gemeinsinns«

Hans-Böckler-Stiftung/Steidl Verlag,  655 Seiten, 38,00 €

Es gab Zeiten, in denen Vorlesungen nicht schneller Wissensvermittlung dienten, sondern der öffentlichen Entwicklung eines Gedankens. Damit waren sie offen, lebendig und angreifbar. Als solch eigensinnige Unternehmungen sind die Vorlesungen Negts eine Erinnerung an ein zugrunde gegangenes Ideal akademischer Bildung und ein Dokument öffentlicher Wahrheitssuche in der Tradition der Aufklärung. Sie richten sich an alle, die bereit sind, den häufig anstrengenden, bisweilen aber auch heiteren Weg der Reflexion zu gehen.

6. Dennis Duncan: »Index, eine Geschichte des… Vom Suchen und Finden«

Kunstmann, 372 Seiten, 30,00 € – Übersetzt von Sebastian Vogel

»Index, eine Geschichte des« ist eines der seltenen Beispiele fröhlicher, lebenszugewandter Wissenschaft, ein Buch der Bücher, voller Entdeckungen, die man in einem Register zuletzt vermutet hätte. Die meisten von uns machen sich kaum Gedanken über den Anhang eines Buchs. Aber hier versteckt sich vor unseren Augen ein unerschöpfliches Reich von Ehrgeiz, von Obsession, Streit, Politik, Vergnügen und Spiel. Hier können wir »Metzger, die wir meiden sollten« finden, oder »Kühe, die Feuer scheißen« und sogar »Calvin, mit einer Nonne in seiner Kammer« erwischen. Das Register ist ein unbesungenes, außergewöhnliches Alltagswerkzeug, eine geheime Welt mit einer ruhmreichen, kaum bekannten Vergangenheit.

7. Phillip Sterzer: »Die Illusion der Vernunft. Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten«

Ullstein Verlag, 318 Seiten, 23,99€

Corona-Leugner, Klimaskeptiker, alternative Fakten – wie ist es möglich, dass Menschen felsenfest von Dingen überzeugt sein können, die eindeutig falsch sind? Sind sie einfach nur schlecht informiert? Oder gar verrückt? Oder liegt es daran, dass sie gern nur das glauben, was sie glauben möchten? Alle Menschen sind irrational – auch die, die von ihrer Rationalität überzeugt sind. Der Neurologe, Psychiater und Hirnforscher Philipp Sterzer erklärt, warum das so ist und welche Schlüsse wir daraus ziehen können. Ein neuer Blick auf subjektives Erleben, soziales Bewusstsein und die Wahrnehmung der Welt.

8. Ben Wilson: »Metropolen. Die Weltgeschichte der Menschheit in den Städten.«

S.Fischer Verlag, 574 Seiten, 34,00€ – Übersetzt von Irmengard Gabler

Wie kommt es, dass heute die Hälfte der Menschheit in Städten lebt? Der Historiker Ben Wilson spannt einen faszinierenden Bogen von der Urgeschichte in die Zukunft, um diese Frage zu beantworten. Seine Reise beginnt 4.000 v. Chr. in Uruk, verläuft über die Zentren der antiken Welt Babylon, Athen und Rom, führt u. a. über Bagdad und Lübeck nach London, Paris, New York und Warschau und endet in Los Angeles und Lagos. Jede Stadt steht für einen bestimmten Aspekt, Lübeck etwa für Handel, Warschau für Zerstörung durch Krieg, Lagos für die Megacity der Zukunft.

9. Henry Kissinger: »Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert«

C. Bertelsmann Verlag, 603 Seiten, € 38,00

Henry Kissinger, Jahrhundertpolitiker und Friedensnobelpreisträger, Großmeister der internationalen Diplomatie und politischen Strategie, erzählt in diesem Alterswerk prägnant und eindrücklich von seinen persönlichen Begegnungen mit herausragenden Staatslenkern des 20. Jahrhunderts: von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer über Richard Nixon und Anwar as-Sadat bis hin zu Margaret Thatcher und Lee Kuan Yew. Eine faszinierende Studie über die Kraft der politischen Vision – und zugleich das Vermächtnis eines legendären Staatsmannes

10. Ines Geipel: »Schöner Neuer Himmel. Aus dem Militärlabor des Ostens«

Klett-Cotta Verlag, 288 Seiten, € 22,00

Die Idee war so ambitioniert wie anmaßend: den Kommunismus auch im All real werden zu lassen. Und die Realität? Um einen »Körper mit optimaler Normierung« zu kreieren, wurde ab den 70er Jahren im Osten in hochgeheimen Laboren geforscht. Was surreal klingt, findet sich belegt in den Akten des ostdeutschen Militärs, aber auch bei denen, deren Körper zum Material dieses Staatstraumas gemacht wurden. Eine dichte Erzählung, die ein scharfes Licht auf ein bislang ausgeblendetes Erbe der DDR wirft – und eine Zeitdiagnose über entgrenzte Körperforschung.

Besondere Empfehlung des Monats des Oktober von Karin Schmidt-Friedrichs (Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels):

Nils Melzer: »Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung«

Piper Verlag, 336 Seiten, € 22,00

Nils Melzer nähert sich dem Fall Julian Assange als Rechtswissenschaftler: analytisch, logisch, distanziert. Das ist erstmal wichtig bei einer Person und einem Fall, die für viele – ich gestehe, auch für mich – mit vielen Emotionen verbunden sind. Melzer schildert präzise den schier unglaublichen Fall eines Investigativ-Journalisten, der Kriegsverbrechen der USA aufdeckt – und dadurch zum Opfer einer Justiz wird, deren Verständnis von Rechtsprechung wir hinterfragen sollten. Man könnte dieses Buch als Justiz-Krimi lesen. Es ist aber ein Sachbuch. Und die Sache ist ernst. Seit 2019 sitzt Julian Assange im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh ein. In Kürze entscheidet der High Court endgültig über seine Auslieferung in die USA.  Es geht in diesem Fall nicht nur um den Menschen Julian Assange, sondern um eines unserer höchsten Güter: die Meinungs- und Pressefreiheit. Das macht die Lektüre von Melzers Buch so wertvoll, selbst wenn man ihm vorwerfen kann, dass er im Laufe der Beschäftigung mit dem Fall Assange seine analytische Distanz zunehmend verliert. Manchmal braucht es einen klaren Standpunkt! (Karin Schmidt-Fridrichs)


Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Manon Bischoff, Spektrum der Wissenschaft; Natascha Freundel, RBB-Kultur; Dr. Eike Gebhardt, Berlin; Knud von Harbou, Feldafing; Prof. Jochen Hörisch, Uni Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer, Sassari, Italien; Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt; Jörg-Dieter Kogel, Bremen; Dr. Wilhelm Krull, The New Institute, Hamburg; Marianna Lieder, Freie Kritikerin, Berlin; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Gerlinde Pölsler, Der Falter, Wien; Marc Reichwein, DIE WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, krass-und-konkret, München; Norbert Seitz, Berlin; Mag. Anne-Catherine Simon, Die Presse, Wien; Prof. Dr. Philipp Theisohn, Uni Zürich; Dr. Andreas Wang, Berlin; Prof. Dr. Harro Zimmermann, Bremen; Stefan Zweifel, Zürich.

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4 Kommentare

  1. Jürgen Habermas verzapft nach wie vor Dummzeuch, und Jürgen Renn schreibt für das „Anthropozän“, eine Selbstbezeichnung der pervertierten Affenart, die im vollen Glanz ihrer Hybris erstrahlt.

    Wie wäre es, wenn sich Böhm mal mit Hegel beschäftigte, statt dem durch häufige Verweise ausgelutschten Kant?

    Das Buch von Isolde Charim scheint interessant zu sein, da sie auf den wesentlichen Aspekt überkommener, absurder Herrschaftsstrukturen weist.

    Oskar Negt kann man immer wieder lesen, wenn man nicht muss.

    Dennis Duncan darf in keiner Bibliothek fehlen. In meinem Bücherschrank dagegen schon.

    Philipp Sterzer wurde vermutlich einmal zu viel geboostert.

    Ben Wilson: Und wofür steht Bielefeld?

    Was soll man zu Kissinger sagen? Es gibt den Club der 27 (Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison, Amy Winehouse, alle zu früh verstorben worden) und es gibt diese langlebigen Kriegsverbrecher.

    Zu Ines Geipel so viel: 46 US-Biowaffenlabore in der Ukraine, Pfizer mittlerweile weltweit aktiv in der Verspritzung von mRNA-Technologie.

    Das Buch von Nils Melzer ist ein Muss für alle, die sich noch Restvernunft und Willen zur Demokratie bewahrt haben. So lange Assange sich in Folterhaft, in Haft überhaupt befindet, sind alle Reden von Politiker:innen über Demokratie nichts als hohles Geschwätz.

    1. Ha, ha….Ja, der Kissinger, der Massenmörder und Habermas das Mietmaul der Sozialdemokraken…
      Wo sind all die „Intellektuellen“ geblieben, im gewalttätigen Diskurs der Tage ?
      Von solchen Lappen kauft doch keiner ein Buch ?“

  2. Habermas, Systemphilosoph und Totengräber der kritischen Theorie – nein Danke.

    Böhm und der „humanistische Appell Kants“, dessen kategorischer Imperativ im Corona- Massnahmen Wahnsinn, Pflicht Solidarität und weiteren Zwang wiederentdeckt wurde?
    Zu Kant sollte man in diesem Sinn zB eine „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ gelesen haben.
    @Ohein hat es treffend beschrieben, der den Autor die Beschäftigung mit Hegel angeraten hat. Wohl vergebene Liebesmüh…

    Negt: immer gut.

    Sterzer: Corona Leugner? Ich kenne nicht eine Person, die das Corona Virus leugnet. Schreibt irgendwas über Vernunft… Schon klar.

    Kissinger: „Staatskunst * _ geschrieben von einem Kriegsverbrecher.
    Ein Politiker, der den Friedensnobelpreis für Beendigung jenes (Vietnam) Kriegs erhielt, für dessen Ausbruch er mit verantwortlich war.
    Respekt!

    Melzer: Lesebefehl! Zeigt die ganze geheuchelte Doppelmoral unserer Gesellschaften und Politik auf.

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