Politische Lüge und die Konstruktion der Wirklichkeit

Höhlengleichnis
Quelle: Dieses Bild wurde mittels Grok entwickelt.

Von der „edlen Lüge“ Platons bis zu den Kriegsbegründungen moderner Staatsführer: Wie Machteliten Wahrheit formen – und warum politische Lügen oft als höhere Vernunft getarnt werden.

Ein Buchauszug.

Lügen ist mehr als bloße Täuschung; der Lügner möchte, dass das Unwirkliche als Wirklichkeit akzeptiert wird, deswegen macht er sich daran, das als wahr zu etablieren, was eigentlich nicht der Fall ist, nicht wirklich real ist. Eine Lüge einer staatlichen Stelle soll von der Öffentlichkeit als »offizielle« Wahrheit über die »reale Welt« anerkannt werden. Im Grunde ist die Lüge Ausdruck eines Willens zur Macht. Meine Macht wird vergrößert, wenn Sie »ein Weltbild akzeptieren, das ein Produkt meines Willens ist«. Natürlich sollte der versierte Lügner nicht auf seine eigenen Lügen hereinfallen; das wäre Selbstbetrug. Doch könnte der gewiefte Lügner auch zum Gewohnheitslügner werden, wobei der Erfolg einer Lüge zur nächsten ermutigt, sodass ein Staatsführer versucht sein könnte, die Unwahrheit zur Realität werden zu lassen – wie beispielsweise bei den fieberhaften Bemühungen des Vizepräsidenten, die CIA dazu zu bewegen, Beweise für Massenvernichtungswaffen vorzulegen, wo es nur wenige oder gar keine gab.

Es ist schon fast ein Klischee, dass es unter ungewöhnlichen Umständen, und insbesondere unter außergewöhnlichen Bedingungen, für Führer unabdingbar sein könnte, die Öffentlichkeit zu belügen, irrezuführen oder Fakten zu verbergen, wenn das Lügen den allgemeinen Interessen der Nation dient. In der gesamten westlichen Geschichte wurde bei der Frage, wann gelogen werden durfte, welche Form eine Lüge haben sollte und ob sie gerechtfertigt ist oder war, gewöhnlich davon ausgegangen, dass Lügen Eliten vorbehalten sind, die theoretisch über mehr politisches Wissen und Erfahrung verfügen als gewöhnliche Bürger.

Allerdings scheint es paradox zu sein, zu sagen, dass die Demokratie sich absichtlich selbst täuschen sollte. Nehmen wir jedoch einmal an, dass die Eliten, anstatt einfach nur Zugang zu umfassenderen oder zuverlässigeren Informationen zu haben, für sich ein besonderes System der Rationalität beanspruchen, das ihnen den Zugang zu einer höheren, außergewöhnlichen Realität gestattet und sie befähigt, tiefer zu blicken: über die Wirklichkeit hinaus, die der Durchschnittsbürger erlebt. Mündet dies in einer Vorstellung, in der die Lüge nicht nur eine geringfügige Abweichung, sondern eine Rekonstitution der »Realität« ist? Wenn beispielsweise der ursprüngliche Grund für den Einmarsch in den Irak (Massenvernichtungswaffen) als Lüge entlarvt wurde, die herrschenden Eliten dann aber behaupteten, dass eine höhere Absicht darin bestehe, die Demokratie im Nahen Osten zu fördern: Käme diese Rechtfertigung einer Behauptung gleich, wonach die Eliten über die substanziell überlegene Form des Urteilsvermögens verfügen, die bei denjenigen vonnöten ist, die mit Problemen konfrontiert sind, deren Komplexität und mögliche Folgen die Erfahrung des Normalbürgers bei Weitem übersteigen?

Platons Rechtfertigung der Elitenherrschaft

Die vielleicht einflussreichste Begründung für die politische Lüge als höhere Form der Vernunft und für die Lüge als Vorrecht eines besonderen Typs politischer Eliten mit Zugang zu einer höheren und den Normalsterblichen nicht zugänglichen Realität wurde von Platon vor mehr als zweitausend Jahren formuliert. Seine Rechtfertigung für die Lüge findet einen aktuellen Widerhall im systematischen Lügen der Bush-Regierung, und dieser Widerhall hat eine intellektuelle Genealogie. Platon wurde von Leo Strauss kanonisiert, wobei die Straussianer und die Neocons, die eine entscheidende Rolle bei der Täuschung der Öffentlichkeit über die Gründe für den Angriff auf den Irak spielten, Strauss gleichermaßen kanonisiert haben. Vom Kanon zum Kanonenfutter.

Herrscher, so Platon, werden »allerlei Täuschungen und Betrug (…) anwenden müssen zum Nutzen der Beherrschten«. Platons politisches Idealsystem basiert auf scharf definierten und erzwungenen politischen Ungleichheiten, die gewährleisten sollen, dass eine speziell ausgebildete Klasse von Philosophen die politische Entscheidungsfindung und die Praxis des Lügens monopolisieren kann. Die zentrale Unterscheidung, die kultiviert und durchgesetzt wird, ist also die zwischen denjenigen, die aufgrund ihrer außergewöhnlichen Geistesgaben und ihrer anschließenden Ausbildung in der Lage sind, die wahre Realität zu erkennen, und denjenigen, die als unfähig eingestuft werden und denen eine »höhere« Bildung daher verwehrt bleibt.

Die Ideologie, die diese Ungleichheiten sanktioniert, ist die sogenannte edle Lüge. Den Bürgern soll mitgeteilt werden, dass sie zwar alle von einer gemeinsamen »Mutter« abstammen, aber gemäß einem hierarchischen Prinzip einer von drei Klassen zugeordnet sind: der herrschenden oder goldenen Klasse der Philosophen-Wächter, in der das wahre Wissen und die Fähigkeit zu herrschen exklusiv zu finden sind; der militärischen oder silbernen Klasse und der bäuerlich-handwerklichen oder bronzenen Klasse. Politische Macht und Autorität sind der privilegiert gebildeten goldenen Klasse vorbehalten, und nur ihr ist das Vorrecht der Lüge erlaubt. Platons Rechtfertigung der Elitenherrschaft ist in seinem berühmten Höhlengleichnis dargelegt. Es kontrastiert die Unwirklichkeit der Bilder, mit denen die Vielen leben, mit der wahren Realität, der sich nur die Wenigen annähern können.

Stellen Sie sich vor, dass Menschen in einer tief in den Boden eingelassenen Höhle leben. Von Kindheit an werden sie durch Ketten unbeweglich gehalten; weil sie nur das sehen können, was direkt vor ihnen ist, nehmen sie an, dass dies der Wahrheit entspricht. Hinter ihnen befindet sich ein Feuer, an dem ein Pfad vorbeiführt. Stellen Sie sich nun einige Personen vor, die Kunstwerke aus Holz oder Stein tragen, die teilweise menschlichen Figuren oder Tieren ähneln und deren Schattenbilder vom Feuer an die Wand geworfen werden. Die »Gefangenen« können weder sich selbst noch andere Gefangene sehen; sie sehen nur die Schatten, die das hinter ihnen befindliche Feuer auf die ihnen gegenüberliegende Wand wirft. »Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke?«

Die Demokratie war Platon natürlich ein Gräuel

Platon fährt fort: Was aber, wenn einer der Höhlenbewohner entfesselt würde und gezwungen würde, aufzustehen und draußen in das gleißende Sonnenlicht zu blicken? Zunächst geblendet, hält er die »wahre« Welt für eine Illusion, doch nachdem er sich an das Licht gewöhnt hat, erkennt er, dass er die Welt nun im Lichte der tatsächlichen Realität sieht – das heißt, er hat Einsicht erlangt, und was er zuvor für die Realität gehalten hatte, war Illusion. Die große Mehrheit der Menschheit bleibt in der Höhle gefangen und unfähig, den wahren Charakter der Dinge zu begreifen. Ihre größte Hoffnung besteht darin, die Macht derer zu akzeptieren, die sich mit der richtigen Philosophie auskennen. Platon kommt zu einem düsteren Schluss: Die Massen bevorzugen von Natur aus eine illusorische Realität, und so kann es passieren, dass sie sich gegen den Philosophen wenden und ihn zu einem Märtyrer der Wahrheit machen. So fürchtet die Masse die Wahrheit, und ihr Instinkt liegt darin, sich an das Unwirkliche zu klammern.

Aber was ist wirklich? Für Platon war es nicht die Welt der greifbaren Objekte, der alltäglichen Erfahrung, der Dinge, die wir berühren, spüren und erleben: Diese sind zu flüchtig oder subjektiv, um wahr oder real zu sein. Oder vielleicht auch allzu verständlich, denn sie bilden die Alltagswelt derer, auf die man als »gewöhnlich« herabschaut. Das wahrhaft Reale sind die immateriellen Ideen. Sie sind nicht greifbar, unveränderlich und gehören einer anderen und höheren Seinsordnung an. Die Ideenerkenntnis vermittelt einen privilegierten Zugang zum Sinn der Welt und der Natur des Guten. Allein die Wenigen sind befähigt, die Realität zu begreifen, aber erst nachdem sie sich einer strengen intellektuellen Zucht unterzogen haben, angeleitet von den wahren Philosophen. Da die Vielen nicht in der Lage sind, die Realität zu erkennen, machen die Wenigen keine Anstalten, das Niveau der allgemeinen politischen Bildung anzuheben. Stattdessen verbreiten die Wenigen das, was politisch zweckmäßig ist, und sie tun dies in einer für die Massen nachvollziehbaren, vulgarisierten (d. h. unwahren) Form, zum Beispiel als Mythos.

Die Demokratie war Platon natürlich ein Gräuel, nicht zuletzt deshalb, weil sie für ein Regime steht, in dem sich die Herrschenden eher von der konkreten Erfahrung des Alltags, vom »gesunden« Menschenverstand leiten lassen.

Obwohl es in Platons Entwurf keinen Wettstreit um die politische Macht gibt, dreht sich in seinem Staat in einem anderen Sinne alles um Politik: um die politische Frage, wer den Zugang zur »Realität« definiert und kontrolliert, und welche Rolle Wahrheit und Lüge dabei spielen. Platon ging davon aus, dass die überschaubare Größe seines imaginären Staates es seiner Elite erleichtern würde, zu kontrollieren, inwieweit und in welcher Form die Vielen von einer Realität profitieren würden, die sie niemals verstehen, geschweige denn wirklich erfahren könnten.

Um es auf den Punkt zu bringen: Man unterstelle einmal, die Elite befände sich in einer Demokratie statt in Platons Staat. Angenommen, sie wäre von der Moderne hinlänglich beeinflusst worden, um der Existenz der »Realität« mit einer gewissen Skepsis zu begegnen, könnte sie dann nicht einfach in die Höhle hinabsteigen und versuchen, die Kontrolle über die auf die Wand geworfenen Schattenbilder zu erlangen? Zumal, wenn sie sich mit denen verbünden könnte, die mit der Herstellung dieser Schattenbilder und der Bestimmung ihres Inhalts befasst sind?

Sheldon S. Wolin

Sheldon S. Wolin (1922—2015), Demokratietheoretiker und Politikwissenschaftler, lehrte politische Theorie am Oberlin College, an den Universitäten von Kalifornien, Berkeley, Santa Cruz und Los Angeles, der Princeton University, der Cornell University und der Oxford University. Zu seinen Schülerinnen zählte Judith Butler. Er war der Gründungsherausgeber des Journal of Democracy. Wolin schrieb in seiner politischen Theorie der Demokratie einen flüchtigen Charakter zu und betonte die zentrale Kraft lokaler Formen der politischen Beteiligung als Gegengewicht zu den totalisierenden Tendenzen staatlicher Macht.
Mehr Beiträge von Sheldon S. Wolin →

Ähnliche Beiträge:

6 Kommentare

  1. Wenn die Erfassung der Realität nicht nur beim Pöbel, nicht nur bei den ausführenden Speichelleckern oder den sichtbaren Sollbruchstellen (=Politikern) oder deren Einflüsterern stolpert… dann waren da noch Kräfte ausserhalb des Systems erfolgreich am Werk. Da kranken dann alle Analysen oder Verbesserungsvorschläge, was ja das Ziel ist – immer hübsch die Kräfte des Gegners dahin ablenken, wo sie nutzlos bleiben.
    Und das Zitat hier ist bestätigt von Leuten, die bei der damaligen Rede anwesend waren: „We’ll know our disinformation program is complete when everything the American public believes is false.“ – William J. Casey, CIA Director (1981)
    Das bezieht sich nicht nur auf das, was jetzt ist, sondern auch auf Geschichte, Wissenschaft, Gesundheit, etc. – wer etwas neugierig ist, ist im Vorteil.

    1. > dann waren da noch Kräfte ausserhalb des Systems erfolgreich am Werk.

      Bill Gates und George Soros von der geheimen Basis auf der Rückseite vom Mond?

  2. Das, was heute als sog. „Zivilgesellschaft“ bezeichnet wird, entspricht im Grunde dem dienenden Fußvolk der Platon´schen Eliten bzw. ihrer „Philosophenherrschaft“.

    Und der sog. „herrschaftsfreie Diskus“ (Habermas), den die „Zivilgesellschaft“ (untereinander) führt (d.h. frei von der Einmischung traditioneller Eliten und auch frei vom Mehrheitswillen der Bevölkerung), soll – und hat auch in der Realität – dann eine größere Bedeutung als der Diskurs und Mehrheitswille des eigentlichen Souveräns (das Volk).
    Von „größerer Legitimation“ kann man nun aber eben gerade nicht sprechen, denn das Wort „Legitimation“ kommt ja von „lex, legis“ (lat. das Gesetz).

    Und eben diese Begriffsumkehrung wird uns nun als „Demokratie“ verkauft.
    Orwell!

  3. Kein Wort in deutschen Medien – In der Ukraine ist der bisher spektakulärste Korruptionsfall mit Beteiligung Selenskys bekannt geworden

    In der Ukraine beherrscht ein Korruptionsfall die Medien, in den Selensky persönlich involviert ist, bei dem Tonaufnahmen von Gesprächen der Verschwörer veröffentlicht wurden und der darauf hinweist, dass die US-Regierung das Feuer auf Selensky eröffnet hat.

    Aber in deutschen Medien gibt es bisher keine Meldung darüber.

    Den Artikel hier lesen https://anti-spiegel.ru/2025/in-der-ukraine-ist-der-bisher-spektakulaerste-korruptionsfall-mit-beteiligung-selenskys-bekannt-geworden/

    Das Problem der Europäer

    Trump hat die Ukraine als hochgradig korrupt bezeichnet und das als einen der Gründe angeführt, warum die USA die Unterstützung Kiews eingestellt haben.

    Unter Trump ist offenbar kein US-Dollar mehr nach Kiew geflossen.

    Sollten westliche Medien beginnen, über die Details der ukrainischen Korruption und Selenskys Rolle dabei zu berichten, kann Trump sich zurücklehnen, die gesamte Vergangenheit Joe Biden anlasten und ansonsten schadenfroh nach Europa schauen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert