Materialermüdung

Ausschnitt vom Cover des Romans »Materialermüdung« von Dietrich Brüggemann.
Cover des Romans »Materialermüdung«

Ein Rauswurf aus dem Paradies, eine Liebesaffäre in der falschen Sprache, Mobbing am Theater und im Internet, künstliche Intelligenz und ein schleichender Weltuntergang – »Materialermüdung« ist der furiose Debütroman von Dietrich Brüggemann. Hier erzählt er, warum er das Buch geschrieben hat.

Vor vielen Jahren sagte ich auf einer Autofahrt zu einem Freund: »Ich würde gern mal einen Hollywood-Weltuntergangsfilm drehen, aber nicht mit 30 km großen Raumschiffen oder Asteroiden, sondern einen, in dem die Bedrohung sehr klein ist, also auf atomarer Ebene, beispielsweise ein fortschreitender Zerfall der Materie.«

Das war im Jahr 2009. Zehn Jahre später holte ich diese Idee wieder heraus und schrieb sie als Roman auf. Die Niederschrift begann im Sommer 2019 auf einer kroatischen Insel und endete im Herbst 2021 auf einer anderen kroatischen Insel. Dazwischen passierten allerlei merkwürdige Dinge, die ich aber nicht in diesem Buch, sondern bei anderer Gelegenheit gesondert behandeln wollte. Also legte ich die Handlung ins Jahr 2019.

Alltag zwischen Rettungsgasse, Ostseestrand und Mängelexemplarbuchhandlung

Die Geschichte handelt aber natürlich nicht nur vom Zerfall der Materie, sondern vom Zerfall zahlreicher Bindungen, Verortungen und Gewissheiten in unser aller Leben. Sie handelt auch von der Frage, ob genau diese Erzählungen vom Zerfall und vom Ende der großen Erzählungen nicht auch nur Erzählungen sind, mit denen eine Gesellschaft ihr Selbstbild konstituiert, weil jede Generation ja gern die letzte, besondere, apokalyptische sein will. Aber vor allem handelt dieser Roman vom Leben dreier Leute im Hier und Jetzt, in der Welt des frühen 21. Jahrhunderts, die sich mit den Dingen herumschlagen, die wir alle kennen: Social Media, die internationalisierte Arbeitswelt, die Hackordnungen des Kulturbetriebs, die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration sowie deren Auseinandersetzung mit derselben Geschichte. Dazu die neue Sensibilität im Umgang mit Ungerechtigkeiten und der blinde Fleck im Umgang mit anderen Ungerechtigkeiten, die uralten Komplikationen zwischen Mann und Frau, ergänzt durch die neu hinzugekommene Frage, ob man überhaupt noch von Mann und Frau reden darf, und der deutsche Alltag zwischen Rettungsgasse, Ostseestrand und Mängelexemplarbuchhandlung.

All diese Sachen finden in meinem Leben statt und im Leben der Menschen um mich herum. Viele dieser Sachen finde ich aber nicht in den Filmen und Büchern, in denen wir unser Leben erzählen. Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich weiß nur, dass ich von den Dingen erzählen will, die mir in meiner Zeit begegnen. Die großen Texte, die ich über den Abstand von Jahrzehnten oder Jahrhunderten verehre, sind zugleich sehr spezifisch und sehr universell. Sie nageln die Seltsamkeiten ihrer jeweiligen Zeit fest, doch sie sprechen zu uns, als wären sie gestern geschrieben worden. Vermutlich ist das beides kein Gegensatz, sondern hängt zusammen.

»Materialermüdung« ist ein Versuch, meiner eigenen Zeit diesen Dienst zu erweisen. Wenn mir das ein Stück weit gelungen sein sollte, wäre ich zufrieden.

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