Kanzlerherz aus Stein

Regentropfen am Fenster
Quelle: Pixabay

Während Autor Arno Luik gegen den Krebs kämpft, breitet sich der Wahnsinn auf der politischen Bühne aus – und der Bundeskanzler zeigt Herz: Und zwar eines aus Stein. Ein Buchauszug.

Nach seiner Krebsdiagnose, die Bestseller-Autor Arno Luik im vergangenen Spätsommer bekam, macht er das, was er noch nie tat: Er schreibt ein Tagebuch. Er notiert seine Innenansichten, den Schrecken, die Albträume, seine Sehnsucht nach Leben – aber plötzlich geht es um viel mehr als das persönliche Drama: um diese zerrissene, malträtierte Welt. Die so schön sein könnte, wenn die Regierenden nicht …

Hamburg, 14. November 2022

Sehr gut geschlafen, obwohl ich vor dem heutigen Tag ein wenig Schiss hatte, denn jetzt gleich gehe ich zur ersten Chemo.

Ich nehme ab, obwohl ich mich dagegen wehre, viel und auch fett esse. Mein Gesicht ist hager geworden, mit etwas eingefallenen Wangen – wie bei einem Marathonläufer. Du siehst gut aus, sagte neulich unsere Nachbarin. Wenn das stimmt – die schöne Hülle täuscht, in mir ist ja dieses garstig Viech, das an mir nagt, Tag und Nacht.

Bundeskanzler Olaf Scholz, höre ich gerade im Radio, ist mit großem Wirtschaftsgefolge in Vietnam. Es geht um neue Märkte, es geht gegen China, es geht um Ressourcen, die wegen des Russlandboykotts ausfallen. Für ihn (den ehedem leicht-marxistisch angehauchten Juso-Vize-Chef) wie für mich und viele andere war in den 60ern/70ern der Vietnamkrieg, der von den USA mit äußerster Brutalität (Napalm, Agent Orange, Bombenteppiche, zwei bis drei Millionen tote Vietnamesen) auch mit Unterstützung der damaligen Bundesregierung geführt wurde, das zutiefst erschütternde und politisierende Geschehen.

Macht nun Scholz endlich das, was sich gehört? Entschuldigt er sich, dass die BRD diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA diplomatisch unterstützte, US-Deserteuren das politische Asyl verweigerte, Antivietnam-Demonstranten kriminalisierte?

Entschuldigt er sich auch dafür, dass der westdeutsche Konzern Boehringer unter dessen damaligem Geschäftsführer Richard Weizsäcker (dem späteren Bundespräsidenten) an die US-Armee riesige Mengen von T-Säure verkaufte, wichtiger Bestandteil von »Agent Orange« – jenem fürchterlichen Gift, das große Teile des vietnamesischen Dschungels entlaubte, unzählige Menschen verseuchte, Hautgeschwüre, Leberschäden, Krebs verursachte, deformierte, schrecklich missgebildete Babys auf die Welt kommen ließ?

Nein. Scholz tut dies, ich kann es kaum glauben, als ich es im Radio höre: Er belehrt dieses kleine Land, Opfer eines Angriffskriegs, in dem noch heute täglich Menschen wegen explodierender US-Tretminen verletzt, verstümmelt werden oder umkommen, in dem noch heute Menschen an den Folgen des Napalm- oder Gifteinsatzes leiden, so: »Es handelt sich bei dem russischen Angriffskrieg um einen Bruch des Völkerrechts mit gefährlicher Präzedenzwirkung. Kleine Länder können nicht mehr sicher sein vor dem Verhalten ihrer größeren, mächtigeren Nachbarn.«

Fällt diesem Kanzler nicht auf, wie diese Belehrungen auf Vietnamesen, die nur dank der Sowjetunion überlebt haben, wirken müssen? Hat dieser Mann, ein wenig klischeehaft gefragt, ein Herz aus Stein?

15. November 2022

Die Chemo gestern dauerte gut sechs Stunden. Die junge Pflegerin stellte sich so vor: »Ich bin Schwester Judith.« Ich musste lachen, kein Pfleger hatte sich bisher als »Bruder Fritz« oder »Bruder Karl« vorgestellt, und so sage ich: »Das klingt ein wenig altmodisch.« Nein, sagt sie, »das gefällt mir«, und für mich war diese Art der Begrüßung ein kleiner Wärmestrom. Ein weites Feld allerdings für die eifrigen Aktivist***Iinnen an der »Gender«-Kampffront.

Neben mir hing eine sehr junge Frau am Tropf. Dem Arzt erzählte sie von heftigen Problemen mit ihrer Chemo. Als ich gehen kann, sage ich zu ihr: »Ich wünsche Ihnen alles Gute!« Sie: »Ich Ihnen auch.«

Und dann weint sie.

Gestern war ein schöner Spätherbsttag, mal wieder viel zu warm, so um die 15 Grad. Als ich das Krankenhaus verlasse, friere ich plötzlich: Auf meinem Gesicht – den Wangen, der Nasenspitze, den Lippen – ist es, als ob kleiner, feiner, spitzer Eisregen draufprasseln würde, nach ein paar Metern habe ich ein Kribbeln in den Fingern, die immer kälter werden.

Nach einigen Stunden, Gott sei Dank, sind die Nebenwirkungen meiner ersten Chemositzung komplett verschwunden – bis auf dieses Phänomen: Wenn ich etwas aus dem Kühlschrank hole, den Gegenstand mit meinen Fingerspitzen berühre, dann zischen kalte, harte Eisspäne in sie hinein, und so ist es auch, wenn ich meine Hände in lauwarmes Wasser tauche, ich schreie dann fast auf.

In meinem Körper arbeiten offenbar starke Kräfte, »passen Sie auf«, hatte Schwester Judith beim Abschied gesagt, dass Ihre Kinder nicht mit Ihrem Urin in Berührung kommen … Kinder habe ich nicht.

Bei diesem Sechs-Stunden-am-Tropf-Hängen hatte ich viel Zeit zum Lesen, ich habe mir leichte Lektüre gesucht, erst ein verblüffend unterhaltsames, außergewöhnlich erwachsenes Kinderbuch: »Die Insel der Pferde« von Eilis Dillon. Es spielt Anfang des 20. Jahrhunderts an Irlands Westküste, und es gibt – so en passant – einen berührenden Einblick in eine verschwundene, eine harte Welt, eine wegsterbende Kultur, geprägt durch Armut und Religiosität – Themen und Stimmungen, die sich auch in Heinrich Bölls schwermütigem Irlandtagebuch finden.

Boris Becker: »Geld und Ruhm machen nicht glücklich«

Dann, bei der Zeitungslektüre, erfahre ich, dass »die Tennis-Legende Boris Becker« noch vor Weihnachten aus dem Gefängnis entlassen und »als freier Mann nach Deutschland abgeschoben werde«, um »Großbritanniens Haftanstalten zu entlasten«.

Vor vielen Jahren, Ende 1989, hatte ich ein langes und intensives Gespräch, es zog sich über eine Woche hin, mit Boris Becker geführt, das mein Leben verändert, mich journalistisch auf eine andere Umlaufbahn geschossen hat; ein Gespräch, das beim Erscheinen einen medialen Großaufschrei provozierte – in Deutschland, aber auch im Ausland. Unter anderem, weil der damals als deutscher Jungheld hemmungslos Gefeierte völlig Unerwartetes, überaus Ungehöriges von sich gab, zum Beispiel so etwas: Bundeswehr? Nein, danke. »Ich würde kein Gewehr in die Hand nehmen.« Hafenstraße? Mein Gott, diese zu RAF-Terroristen hochgejazzten Hausbesetzer in Hamburg »sind mir sympathischer als manche Menschen in meiner Umgebung«. Deutschland? »Dieses nationalistische Gerede habe ich satt.«

Das Gespräch endete so:

Herr Becker, Sportler, heißt es allenthalben, sind Vorbilder. Sind Sie eines?

Aus Sportlern werden Vorbilder gemacht. Ich könnte ein Buch darüber schreiben. Wenn du Olympia- oder Wimbledonsieger bist, hast du ein Vorbild zu sein für Kinder und Erwachsene, weil du ein Ziel erreicht hast, von dem so viele träumen. Sie sehen dich als Idol. Dass du das gar nicht willst, ist allen egal. Du wirst nicht danach gefragt, du bist es einfach. Nochmals: Wir leben im Jahr 1990, und es geht im Sport nur ums Geld. Das ist traurig, aber wahr. Das ist traurig, weil der Mensch in diesem Zirkus auf der Strecke bleibt.

Sie sind verbittert?

Nein, überhaupt nicht. Wir haben über die Werte in dieser Gesellschaft geredet, und ich habe gesagt, dass die Werte falsch sind: Geld und Ruhm machen nicht glücklich.

Definieren Sie mal: Wer ist Boris Becker?

Ein Mensch, der sehr früh extreme Situationen erfahren hat und der es gelernt oder geschafft hat, sie für sich als Vorteile zu nutzen. Ein Mensch, der im Augenblick noch ein bisschen Schwierigkeiten hat, wirklich Mensch zu sein, da er noch an viele Verpflichtungen gebunden ist, der aber glaubt, dass sie ihn in ein paar Jahren nicht mehr binden und er dann nur noch Mensch sein kann. Ohne Logo auf den Schuhen, ohne Logo auf der Kleidung – wirklich frei, absolut frei.

Ein paar Monate nach diesem Gespräch: Die Stadt brodelt wegen der Hafenstraße, Straßenbarrikaden, Demonstrationen, Bürgerkriegsszenen, die Hausbesetzer wehren sich gegen die angedrohte Räumung, ein jahrelanger heftiger Kampf, angespannte Aufregung allenthalben; beim Tennisturnier am Rothenbaum hingegen freudige Aufregung. Boris Becker hat gute Chancen, das Turnier erstmals zu gewinnen – was dann doch nicht klappt. Er steht auf dem Platz, plötzlich dringen Rufe von draußen vor der Tür stehenden Hafenstraßen-Sympathisanten ins Stadion: »Boris, komm zum Hafenrand, wir brauchen deine Vorderhand!«

Einige dieser Demonstranten hatten schon damals das, was Boris Becker jetzt auch hat: Knasterfahrung.

16. November 2022

Nachher bringe ich die kleine »Pumpe«, die ich nach der Chemositzung bekam, zurück in die Praxis. Es ist ein kleines Fläschchen, aus dem irgendwelche Stoffe (ich will gar nicht wissen, was) durch den Port in meinen Körper fließen, und das ich nun nach jeder Chemositzung zwei Tage/Nächte am Körper rumtragen muss. »Mein Opossum«, sagt Barbara jetzt zu mir. Nachteil des in der Wildnis lebenden Opossums: Es hat eine Lebenserwartung von nur zwei bis vier Jahren.

Sie sagt: »Du wirst das älteste Opossum der Welt.«

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11 Kommentare

  1. Warum wird hier nach der Güte eines Herzens gefragt – und nicht vorrangig erst einmal nach der des Hirns?

    1. Man sollte beides haben, Herz und Hirn. Mein Eindruck:
      Regierungsverantwortung kriegt man bei uns nur, wenn man beides nicht hat.

  2. „Während Autor Arno Luik gegen den Krebs kämpft, breitet sich der Wahnsinn auf der politischen Bühne aus – und der Bundeskanzler zeigt Herz: Und zwar eines aus Stein.“

    Während ich diese Headline las, war meine erste Interpretation: wie nur kann das Leben einfach ungerührt weitergehen!?

    Sehr geehrter Herr Luik,
    zu Beginn meine allerbesten Wünsche, einen überwältigenden therapeutischen Erfolg und alles Gute.
    Doch was ist Ihr Ansinnen mit regelmäßigen Beiträgen, die als Aufhänger stets „Krebs“ nutzen und (aktuelle) Geschehnisse irgendwie einweben?
    Ein in der Öffentlichkeit ( außerhalb von entsprechenden Foren) ausgebreitetes „Blankziehen“ generiert stets nur voyeuristisches Interesse!

    1. Blankziehen? Ich glaube, die Texte sind etwas ganz anderes. Sie sind der Blick auf sich selbst und auf die den Menschen umgebende und einschließende Gesellschaft, auf Basis einer erschütterten Lebenssituation, die alles verändert, Prioritäten ordentlich durchschüttelt, und vor allem: den Blick schärft. Kompromissloser macht und gleichzeitig großzügiger.

      Ich selbst habe meine Krebserkrankung zu einer anderen politischen Zeit durchlebt und an mir erfahren, was die Konfrontation mit dem eigenen Sterben mit einem Menschen anstellen kann.

      Für mich kein Blankziehen. Für mich ist sein Buch „Rauhnächte“ ganz wertvolle Lektüre, auch für Menschen ohne Krebs.

  3. Manche Fragen erübrigen sich, wenn man den Status von Deutschland realistisch betrachtet.

    Die Deutschen dürfen sich nur ihren “ Schlachter “ selbst wählen, über den der Ami entscheidet !!!

    Die Nazis, die diese Situation ändern wollen, saugen die Bürger gnadenlos aus. Die Bürger lassen sich
    freiwillig aussagen, da könnte man schlussfolgern – die Bürger haben das selbe Ziel.
    England ist aus der EU ausgetreten – Jugoslawien wurde erfolgreich zerstückelt, nun hat man einen Idioten
    Selinski gefunden der mit seinen Nazis RU in den Krieg gezogen hat. Und das alles und noch viel mehr finanziert
    der Steuerzahler.
    Von vier Siegermächten ist nur noch der Ami übrig geblieben den greift man erst dann an, wenn RU geschwächt ist.
    Der Traum vom Endsieg endet anscheinend niiiie !!!!

    Man sagte nicht um sonst – Deutschland hat nach dem Krieg diesen Wohlstand nur deswegen erreicht, weil der
    verloren ging.
    Wie Wahr das ist zeigt sich Heute – für die Deutsche-Macht über Europa wird der einzelne Bürger immer ärmer!!
    Und diese Macht EU zu halten wird der Bürger ENTEIGNET – dieses Ziel ist inzwischen auch ein offenes Geheimnis

    Nur der Bürger lässt sich all zu gerne von Sorglospaketen im ewigen Schlaf halten.

  4. Arno Luik versteht es glänzend, in Kontrast mit seiner sehr schmerzhaften und potentiell tödlichen Erkrankung interessante aktuelle als auch vergangene Ereignisse auszubreiten und kritisch zu reflektieren.
    Garniert wird das Ganze mit erhellenden Schlaglichtern aus seiner Erfahrung als Interviewer bekannter Persönlichkeiten. Ich finde es bewundernswert, dass Luik im Angesicht seiner schweren Erkrankung und trotz der aufreibenden Therapie solche Kreativität und auch Mut aufbringt, und seine Leserschaft an seinem Wissen und seinen Erfahrungen, seinen Gefühlen, in so konzentrierter Form teilhaben lässt. Weizsäcker, Boehringer Ingelheim und Agent Orange bzw. Hamburger Dioxinskandal – wer weiß heute noch davon? Von der jüngeren Generation vermutlich kaum jemand.
    Richard von Weizsäcker war übrigens auch im Vorstand der Odenwaldschule, die von einem Skandal um sexuellen Missbrauch erschüttert und mittlerweile geschlossen wurde.
    Dies ist pikant, weil Hellmut Becker ein Freund der Familie von Weizsäcker war und weil Gerold Becker, der Haupttäter an der Odenwaldschule, von Hellmut Becker (beide nicht verwandt) an die Schule geholt und zum Schulleiter gemacht wurde, obwohl Hellmut Beckers eigener Patensohn ihm von dem Missbrauch durch Gerold erzählt hatte, da er selbst von Gerold belästigt worden war.
    Beide, Richard und Hellmut, hatten quasi von ihren Vätern die Zugehörigkeit zum Kreis um den Dichter Stefan George geerbt, dem auch die Boehringers nahestanden. Georges Nachlassverwalter Robert Boehringer war „Mentor“ des jungen Richard und späteren Bundespräsidenten. George war ein Befürworter der Päderastie nach altgriechischem Vorbild, was auch Pädophile anzog, von denen George sich allerdings distanzierte. Hellmut Becker hatte bis zu seinem Tod einen nicht zu überschätzenden Einfluss auf das Bildungswesen in der jungen BRD. Gegenwärtig wird seine Rolle bei der Unterbringung von Pflegekindern bei verurteilten Pädophilen in Zusammenarbeit mit dem Sexualwissenschaftler Prof. Helmut Kentler wissenschaftlich untersucht.
    Wer mehr über George und seine illustre Anhängerschaft erfahren will, kann in Ulrich Raulff: „Kreis ohne Meister“ und Thomas Karlauf: „Stefan George“ fündig werden.

  5. @again
    Danke für den Kommentar, auch wenn es offenbar zu einem Missverständnis kam.
    Die von Ihnen beschriebenen massiven Auswirkungen auf das Sein, das Selbstverständnis, das Kopf-oben-nun-unten, jedwede emotionale, psychische, physische und metaphysische Ebene – Haltlosigkeit, Schwebezustand usw. sind unbestritten.
    Die Frage ist nur, ob das eine über dem anderen steht und als Selbstverständnis in „Alternativen“ als Aufhänger dienen sollte/muss.
    Ich sehe es ebenso differenziert, wie das gerne von C-ZPromis mediale Verarbeiten der eigenen Erkrankung, um anderen „zu helfen 🤔“.
    Und das „eigentliche „Thema war doch das Herz aus Stein? Oder?!
    Beste Grüße

  6. Vor ein paar Tagen hatte ich auch ein Gespräch mit einer Schwester, privat und nicht als Patient. Sie, die Krankenschwester, sagte das in Deutschland Medikamente im Krankenhaus verabreicht werden oxycodon, das Opioid verursacht bei nicht gerechter Dosierung eine Abhängigkeit mit verheerenden Folgen.
    https://www.dea.gov/factsheets/oxycodone
    Im allerbesten Deutschland, wird eben jeder Dreck gerne benutzt.

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