Die Tat-Dementis des Anis Amri

Breitscheidplatz, 2016
Gerd Eichmann, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Widersprüchliche Spuren, verschwundene Zeugen und geheim gehaltene Akten: Der Fall Anis Amri wirkt weit komplexer, als das offizielle Bild vom Einzeltäter vermuten lässt.

Ein Buchauszug.

Anis Amri soll nicht nur den polnischen Speditionsfahrer Lukasz ­Urban erschossen und anschließend mit dessen Lastwagen in den Weihnachtsmarkt gerast sein, sondern er soll sich auch im Namen des IS zu dem Massenmord bekannt haben. Sein Portemonnaie und seine beiden Handys habe er als Zeichen der Tatbekennung absichtlich am Tatort hinterlassen. Und auch das Zeigen des islamistischen Grußes in eine Überwachungskamera, wenige Minuten nach der Tat, sei eine Demonstration für seine Täterschaft. So stellen es die zentralen staatlichen Ermittlungsinstanzen bis heute ungerührt dar und so verbreiten es die meisten Medien unhinterfragt.

Doch Narrativ und Wahrheit treiben längst auseinander. Dazu gehört schon die kleine Ungereimtheit, dass eines der beiden Handys außen in einem Loch der vorderen Karosserie steckte, wo es durch den Aufprall des Fahrzeuges nicht hingekommen sein kann. Es muss jemand aktiv dort platziert haben. Dieser Jemand war aber nicht der Fahrer, denn wie Zeugen berichtet haben, stieg dieser ja nach der Fahrt aus und entfernte sich rasch vom LKW. Am überraschendsten ist aber, dass der angeblich bekennende Terrorist mehrfach dementiert haben soll, der Täter zu sein. Das widerspricht dem öffentlichen Bild von ihm, findet sich aber ungeschminkt in den Ermittlungsunterlagen.

Gelöschte Whats-App-Nachrichten

Der Sachverhalt konkret: Mohamed A., der Bruder von Khaled Abdeldaim, mit dem sich Amri bis zum Anschlagstag ein Zimmer teilte, erhielt auf seinem Handy eine Nachricht von Anis Amri, versehen mit einem Passbild von ihm und einem Text mit folgendem Wortlaut:

Leute, ich kann mich nicht öffentlich zeigen, ich habe mit dieser Sache nichts zu tun. Ich würde so was nie im Leben machen. Alles gelogen!! Bitte teilt ALLE diesen Beitrag und glaubt nicht diesen Medien. Helft mir!!! Gott beschütze euch alle meine Brüder und Schwester.

Mit der Textnachricht soll außerdem ein Bild von einer nicht benannten Stadt und der »Polizei im Hintergrund« verknüpft worden sein. Die Ermittler des BKA sind darauf gestoßen, weil ihnen ein anderer Zeuge aus der Szene seine Whats-App-Kommunikation mit Mohamed A. offengelegt hat. Der hatte die Nachricht von Amri am 31. Dezember 2016 an ihn weitergeleitet.

Um welche Stadt und was für eine Polizei es sich handelt, aber auch wann und von wo die Nachricht abgesetzt wurde, ist unklar. Dem BKA muss die Brisanz dieses Sachverhalts bewusst gewesen sein, denn es fasste ihn in einer eigenen Anmerkung zusammen. Wie die Ermittler mit der Spur umgegangen sind, bleibt fraglich. Mohamed A., die erste Quelle, wurde gar nicht danach befragt. Dessen Bruder Khaled durfte ungeprüft erklären, unmittelbar nach dem Anschlag seine beiden Handys entsorgt zu haben. Eines will er verkauft, das andere weggeworfen haben. Ob er die Nachricht erhielt, soll also nicht mehr feststellbar sein. Dasselbe gilt für Bilel Ben Ammar. Er will nach dem Anschlag alle Whats-App-Nachrichten von Amri gelöscht haben, erklärte er gegenüber den Vernehmern im Januar 2017. Zu diesem Zeitpunkt stand der amtliche Plan längst fest, Ben Ammar nach Tunesien abzuschieben, obwohl er als Beschuldigter geführt wurde. Am 1. Februar 2017 wurde die Abschiebung vollzogen.

Geheime Akte

Fast drei Jahre später wurde ein zweites Dementi Amris bekannt. Dieses zweite Beispiel belegt zugleich, dass bis ins Jahr 2020 hinein Ermittlungen zu der heiklen Frage liefen. Demnach soll im November 2019 ein »Informant« Folgendes mitgeteilt haben: Amri habe unmittelbar nach dem Anschlagsgeschehen Semsettin E., den er aus der Fussilet-Moschee kannte, in einem »persönlichen Gespräch« gesagt, er sei nicht am Anschlag beteiligt gewesen und werde zu Unrecht beschuldigt. Den im Tat-LKW aufgefundenen Ausweis habe er, Amri, bereits einige Monate vorher bei der Polizei in Berlin abgegeben.

Ende April 2020 wurde Semsettin E. zur polizeilichen Zeugenvernehmung einbestellt. Warum die erst so spät erfolgte, ist unklar. Allerdings ließ der Vorgeladene durch seinen Anwalt mitteilen, er mache von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch und erschien nicht zur Vernehmung. Schon das ist ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher aber ist, dass die Bundesanwaltschaft als federführende Behörde das akzeptierte. Der zuständige Oberstaatsanwalt meldete dem BKA Anfang Mai 2020 zurück, er sehe von »Zwangsmaßnahmen zur Umsetzung der Zeugenvernehmung« ab.

Im Gegensatz zu Beschuldigten haben Zeugen kein entsprechend umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht. Sie müssen grundsätzlich zur Vernehmung erscheinen und ihre Verweigerung bei jeder Frage neu erklären und begründen. Warum hat die Bundesanwaltschaft darauf verzichtet? Sollte der Informant vom November 2019 geschützt werden? Über welche Informationen verfügte er genau? Darauf gibt es keine Antwort, denn die gesamte Akte ist gesperrt, wie Opferanwälte und Mitglieder des Bundestagsuntersuchungsausschusses erfuhren. Der Generalbundesanwalt hat sie als »geheim« eingestuft. Wenn sie nicht einmal dem Bundestag herausgegeben wird, muss sich eine gefährliche Wahrheit in der Akte verbergen.

Der Deutsch-Türke Semsettin E. gehörte zum radikalen Kern der Fussilet-Moschee, die nach dem Anschlag behördlich geschlossen wurde. Bereits bei einem anderen Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit der Moschee war er nicht zur Vernehmung erschienen. Bekannt ist, dass im Bundesamt für Verfassungsschutz eine Akte über Semsettin E. geführt wird, so wie beispielsweise auch zu Amri, Ben Ammar, Khaled Abdeldaim, Kamel A. oder Emrah Civelek. Dass sich Amri und Semsettin E. kannten, ist bei der überschaubaren Größe der Fussilet-Gruppe anzunehmen. Die Angabe vom »persönlichen Gespräch« zwischen beiden bereitete den Ermittlern aber Kopfzerbrechen, wie aus den Akten hervorgeht. Wenn sie sich getroffen haben, hieße das, Amri hat nach dem Anschlag nicht direkt die Stadt verlassen, sondern verkehrte noch mit verschiedenen Leuten. Wozu? Da sich Amri in dem Gespräch aber auch auf die Ausweispapiere bezogen haben soll, die erst einen Tag später im LKW gefunden wurden, als er möglicherweise bereits auf der Flucht war, läge andererseits auch ein Telefonat nahe. Das wiederum würde bedeuten, dass der Flüchtige ein Mobiltelefon besessen haben müsste, was das BKA jedoch kategorisch bestreitet.

Welchen Hintergrund hat das Attentat tatsächlich?

»Mit der Sache nichts zu tun.« – Also am Anschlag nicht beteiligt? Ganz so unschuldig ist Anis Amri sicherlich nicht. Er war zu einem bestimmten Zeitpunkt zumindest am Tat-LKW, wo er außen seine Fingerabdrücke hinterließ. Und er führte die Pistole mit sich, mit der aller Wahrscheinlichkeit nach der polnische Fahrer erschossen wurde. So gesehen kann er als Tatbeteiligter gelten. Aber war er auch der Haupttäter, der am Steuer des LKW saß? In der Fahrerkabine wurden an unbeweglichen Teilen keine zählbaren Spuren von Amri gefunden, stattdessen Spuren von anderen Personen, die bisher nicht identifiziert sind. Die »Unbekannte Person 2« hinterließ gleich an vier Stellen ihre DNA. Sie könnte also auf dem Fahrersitz gesessen haben. Wenn Amri nicht der Fahrer war, gab es mindestens einen weiteren Täter. Stand etwa eine größere Gruppierung hinter dem Anschlag und Amri realisierte durch die öffentliche Fahndung, dass nur er allein für den Mehrfachmord verantwortlich gemacht werden sollte? Wollte er dem mit seinen Dementis entgegenwirken?

Am Vorabend der Tat, am Sonntag, 18. Dezember 2016, trafen Amri und Ben Ammar in einem Restaurant zusammen. Ben Ammar galt mitunter deshalb als Tatverdächtiger. In den Ermittlungsakten finden sich Hinweise, dass mindestens drei weitere Personen aus dem gemeinsamen Umfeld den Ort aufsuchten, darunter Amris Mitbewohner Khaled Abdeldaim sowie Belhassen K., der zusammen mit Amris Wohnungsgeber Kamel A. mehrmals im Jahr Kurierfahrten zwischen Berlin und Tunesien unternahm.

Welchen Hintergrund hat das Attentat tatsächlich? Zählten zum potentiellen Täterkreis ausschließlich gewaltbereite Islamisten oder auch Kriminelle aus organisierten Strukturen? Kurze Zeit nach dem Anschlag erfuhren die Sicherheitsbehörden durch einen Informanten, dass möglicherweise ein arabisch-stämmiger Familienclan in Berlin mit nominellen Islamisten aus verschiedenen Moscheekreisen in Verbindung gestanden und Amri bei der Flucht aus Berlin geholfen haben soll. Der Sachverhalt blieb mehr als drei Jahre lang geheim, ehe er 2020 unter dem Stichwort »Opalgrün« bekannt wurde. An der gemeinsamen Operation mit diesem Namen waren mindestens drei Verfassungsschutzbehörden beteiligt. Es soll dabei um Aufklärung und Abwehr eines möglichen Terroranschlags gegangen sein. Die Sache ist erst in Grundzügen aufgedeckt; die Frage, warum es dennoch zu einem Anschlag kam, bislang unbeantwortet.

 

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Thomas Moser

Thomas Moser ist freier Journalist und Autor, der unter anderem für das Online-Magazin Overton und ARD-Anstalten arbeitet. Er tritt für eine Erneuerung und Demokratisierung der Öffentlich-Rechtlichen Medien ein. Der Politologe beschäftigte sich mit dem NSU-Komplex und veröffentlichte hierzu mehrere Bücher (u.a. „Ende der Aufklärung. Die offene Wunde NSU“). Er berichtete über die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zum Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz und schrieb dazu das Buch „Der Amri-Komplex“.

Bild von Angela Margarethe Lehner.
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2 Kommentare

  1. Wer noch immer nicht gerafft hat, das wir spätestens seit 9/11 total verarscht werden ist nicht mehr zu helfen.
    Wie schon mal erwähnt, sollte man, als reflektierender freiheitlich gesinnter Zeitgenosse immer vom Gegenteil dessen ausgehen was im Mainstream propagiert wird.

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