Der Durchmarsch russischer Truppen durch Großbritannien

Britische Soldaten, Erster Weltkrieg
Ernest Brooks, Public domain, via Wikimedia Commons

Keine Wahnvorstellung war während des Krieges weiter verbreitet als der Glaube in den letzten Monaten des Jahres 1914, dass russische Truppen durch Großbritannien an die Westfront zögen.

Nichts veranschaulicht besser, wie leichtgläubig die Öffentlichkeit in Kriegszeiten ist und welch günstigen Boden sie für die Kultivierung von Unwahrheiten bietet.

Ein Buchauszug.

Arthur Ponsonby hätte es heute wieder schwer. Denn der, der Kriegslügen auf den Grund geht, bekommt schnell Ärger.

Es ist schwer zu sagen, wie das Gerücht eigentlich entstanden ist. Es wurden in der Folgezeit verschiedene mehr oder weniger humorvolle Vermutungen angestellt: von einem Telegramm, das die Ankunft einer großen Zahl russischer Eier ankündigte, die als »Russen« bezeichnet wurden; von dem großen, bärtigen Mann, der vom Fenster eines Zuges aus verkündete, er käme von »Ross-shire«; und von dem aufgeregten französischen Offizier mit schlechter englischer Aussprache, der in Frontnähe umherlief und rief: »Where are de rations?« Doch General Suchomlinow erklärt in seinen Memoiren, dass Sir George Buchanan, der britische Botschafter in Russland, tatsächlich um die Entsendung »eines kompletten russischen Armeekorps« nach England gebeten habe, und dass englische Schiffe für den Transport dieser Truppen nach Archangelsk gebracht werden sollten. Er fügt hinzu, der russische Generalstab sei zu dem Schluss gekommen, dass »Buchanan seinen Verstand verloren habe«.

Was auch immer der Ursprung gewesen sein mag, das Gerücht verbreitete sich wie ein Lauffeuer und aus allen Teilen des Landes kamen Aussagen von Menschen, die die Russen gesehen haben wollten. Sie saßen in Zügen mit heruntergelassenen Fensterläden und stampften auf Bahnsteigen den Schnee von ihren Stiefeln; in Carlisle und Berwick-upon-Tweed riefen sie heiser nach »Wodka« und in Durham warfen sie einen Rubel in den Geldspielautomaten. Die Anzahl der Truppen variierte je nach der Vorstellungskraft des Zeugen.

Da das Gerücht unzweifelhaft militärischen Wert hatte, unternahmen die Behörden nichts, um es aus der Welt zu räumen. Es tauchte ein Telegramm aus Rom auf, das »die offizielle Nachricht von der Konzentration 250 000 russischer Truppen in Frankreich« übermittelte. In Bezug auf dieses Telegramm erklärte das Pressebüro, »dass die darin enthaltenen Aussagen nicht bestätigt wurden, es aber keine Einwände gegen ihre Veröffentlichung gab«. Da die Nachrichten streng zensiert wurden, diente die Veröffentlichung dieses Telegramms dazu, das Gerücht zu bestätigen und die falschen Zeugen zu beschäftigen.

Am 9. September 1914 erschien der folgende Artikel in den Daily News:

»Die offizielle Genehmigung für die Veröffentlichung des Obenstehenden (des Telegramms aus Rom) hebt die Zurückhaltung der Zeitungen hinsichtlich der Gerüchte auf, die in den letzten zwei Wochen mit so erstaunlicher Beharrlichkeit in ganz England kursierten. Was auch immer die Wahrheit über die russischen Streitkräfte im Westen sein mag, die Allgegenwärtigkeit der besagten Gerüchte war so außergewöhnlich, dass sie fast noch unglaublicher sind, wenn sie falsch sind, als wenn sie stimmen. Entweder hat ein unbegründetes Gerücht eine vielleicht noch nie dagewesene Verbreitung und Glaubwürdigkeit erlangt, oder es stimmt, so unglaublich es auch erscheinen mag, dass russische Truppen, in welcher Zahl auch immer, gelandet und durch dieses Land gezogen sind, während nicht einer von zehntausend Menschen mit Gewissheit sagen konnte, ob ihre Existenz nicht ein Mythos war.«

Die Presse war insgesamt zurückhaltend, da sie eine Falle fürchtete, und die Daily Mail vermutete, dass die Erklärung des russischen Generalkonsuls, dass »etwa 5 000 russische Reservisten die Erlaubnis haben, den Alliierten zu dienen«, der Grund für das Gerücht sein könne. Wie ein beliebtes Buch verbreitete sich das Gerücht eher durch mündliche persönliche Kommunikation als durch Pressemitteilungen.

Am 14. September 1914 griff die Daily News das Thema erneut auf:

»Wie aus der langen Depesche unseres Sonderkorrespondenten Mr. P. J. Philip hervorgeht, arbeiten die russischen Truppen jetzt mit den Belgiern zusammen. Diese Information beweist die Richtigkeit der allgemeinen Vermutung, dass russische Truppen durch England gezogen sind.«

(Daily News, 14. September 1914)

(Depesche)

»Heute Nacht fand ich in einer Abendzeitung die Meldung ›de bonne source‹, dass die deutsche Armee in Belgien zerschlagen worden ist … durch die belgische Armee, verstärkt durch russische Truppen. Nach dem letzten Satz musste ich selbst zum Stift greifen. Seit zwei Tagen befinde ich mich auf einem langen Marsch auf der Suche nach den Russen, und jetzt habe ich sie gefunden – zu sagen, wo und wie, wäre indiskret. Doch es genügt die öffentliche Aussage, dass sie hier sind, und ich kann aus eigenem Wissen für ihre Anwesenheit bürgen.«

Ein offizielles Dementi des Kriegsministeriums wurde in den Daily News vom 16. September 1914 veröffentlicht.

Die Daily Mail vom 9. September 1914 beinhaltete einen scherzhaften Artikel über das russische Gerücht und schloss:

»Aber jetzt erfahren wir aus Rom, dass die Russen in Frankreich sind. Wie sollen wir alle uns bei den Bernets, Bocklers und Pendles entschuldigen, wenn sie doch recht hatten?

Mr. King fragte den Untersekretär für Kriegsangelegenheiten, ob er, ohne die militärischen Interessen der Alliierten zu verletzen, sagen könne, ob russische Truppen über Großbritannien in die westliche Zone des Europäischen Krieges befördert worden sind?

Der Untersekretär für Kriegsangelegenheiten (Mr. Tennant): ›Ich bin mir nicht sicher, ob es meinen verehrten Freund erfreuen oder enttäuschen wird, zu erfahren, dass keine russischen Truppen durch Großbritannien in die westliche Zone des Europäischen Krieges befördert worden sind.‹«
(House of Commons, 18. November 1914)

Arthur Ponsonby

Arthur Ponsonby, 1. Baron Ponsonby of Shulbrede (geb.1871; gest.1946) war ein britischer Staatsbeamter, Politiker, Schriftsteller und Pazifist. Zunächst war Ponsonby Mitglied der Liberal Party, für die er 1908 in das Unterhaus einzog. 1914 gründete Ponsonby mit anderen die „Union of Democratic Control“ (UDC). Ziel dieser Gruppe war es, den vermeintlichen militärischen Einfluss auf die britische Regierung zurückzudrängen und sich für den Frieden einzusetzen. Die UDC war insbesondere gegen die Zensur und die Einführung der Wehrpflicht anstelle des im Vereinigten Königreich üblichen Freiwilligensystems. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wechselte Ponsonby zur Labour Party (die er 1940 wieder verließ) und war seit 1922 wieder Mitglied des Unterhauses. Er war von 1934 bis 1937 Vorsitzender der „War Resisters International“.
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