Das garstig Viech in mir

Graffiti, John Lennons Imagine
Adam Zivner, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Ich war nie krank. Aber plötzlich geschah etwas, mit dem ich nie gerechnet hatte – und doch immer Angst davor hatte. Wahrscheinlich auch Sie. KREBS.
Arno Luik: »Rauhnächte«. Ein Buchauszug.

Ab sofort im Handel.

30. Dezember 2022

Höre gerade im Radio: Pelé ist gestern Abend gestorben. An Darmkrebs.

Als Kind wollte ich immer Pelé oder Uwe Seeler sein. Das erste Fußballspiel, das ich im Fernsehen sah, war Deutschland gegen Uruguay, 1966, WM in England: 4:0. Uwe schoss nur ein Tor.

Es war ein Rabaukenspiel mit Tritten, brutalen Fouls, Polizei auf dem Spielfeld. Dass Uwe die Ohrfeige eines Gegenspielers einfach wegsteckte, das fand ich stark.

Wir hatten keinen Fernseher, niemand in unserer Straße hatte ein Fernsehgerät – nur ein junges Liebespaar, unsere Nachbarn. Die schauten sich das Spiel an; mein Freund und ich drückten uns an ihrem Wohnzimmerfenster im Erdgeschoss die Nasen platt, heimlich, wir sahen kaum etwas in dem kleinen grauen Flimmerkasten, nur winzige Figuren, kein Ton – irgendwann entdeckte uns das schmusende Paar, dem das Spiel nicht so wichtig war, wir durften ins Wohnzimmer zum Flimmerkasten – ein Höhepunkt meiner Kindheit.

Nach dem Spiel spielten wir die Tore nach. »Ich Uwe«, brüllte ich, »ich Uwe«, rief auch mein Freund; »ich Pelé«, rief ich, »der isch no viel besser!«.

Und wir hofften, dass uns Helmut Schön irgendwann entdecken würde.

31. Dezember 2022

Die schlimmste Nacht bisher. Kein Schlaf. Schmerzen im Bauch. Ich fühle mich kotzelend. Sitze gekrümmt auf einem Stuhl. Minuten später liege ich gekrümmt auf der Couch. Dann tigere ich durch die Wohnung, schreie leise auf.

Soll ich die Tabletten gegen Schmerzen und Übelkeit nehmen, die mir verschrieben worden sind? Und da drüben in der Schublade liegen?

Ich will nicht. Ich will nicht noch mehr Gift meinem eh verseuchten Körper zumuten. Ich habe einen Horror vor Pillen und Tabletten. In meinem ganzen Leben habe ich nie welche genommen – nicht mal Aspirin. Ich habe mich immer auf meinen Körper verlassen. Aber ich war auch nie krank.

»Ruf den Arzt an!«, befiehlt mir Barbara am Morgen, sie ist verzweifelt.

Ich will nicht, was wird er auch schon empfehlen? »Nehmen Sie die Pillen!«, wird er sagen.

Apathisch verbringe ich den Tag. Liege mit Schmerzen unter einer Decke. Zum ersten Mal verstehe ich, weshalb zutiefst verängstigte Krebspatienten ihre Chemo abbrechen.

Grad höre ich im Radio: Papst Benedikt ist gestorben. Die wohl wirkmächtigste Überschrift meines Journalistenlebens: »Mein Gott, Ude! Großinquisitor will Ehrenbürger werden!«

Das war 1997. Meine Schlagzeile in der Münchner Abendzeitung hat, wie die SZ später recht verärgert schrieb, dazu beigetragen, dass nichts daraus wurde, dass Joseph Ratzinger, der früher Vorsitzender der Katholischen Glaubenskongregation, also direkter Nachfolger der Heiligen Inquisition war, kein Ehrenbürger der bayerischen Hauptstadt wurde.

Klimakatastrophe, Krieg, Krebs, Korona, keine Königin Elisabeth mehr: 2022, das Katastrophenjahr, annus horribilis, mit den zu vielen Ks geht endlich zu Ende.

Unhoffend hoffe ich, dass 2023 besser wird.

(…)

Ein Nachtmahr zum Neuen Jahr, von …

… dem ich so sehr hoffe, dass er nur ein vorübergehender Albtraum war

Plötzlich bin ich aufgewacht, nein, ich bin nicht so richtig aufgewacht, ich bin eher geschüttelt und gerüttelt worden von einem Nachtmahr, was für ein altes Wort, aber mit was er mich quälte: so modern, so aktuell.

Im Kopf ging es holterdiepolter zu, drunter und drüber, aber die Gedanken waren sehr klar, es ging um diesen Krieg in der Ukraine, auch um Annalena Baerbock, die Außenministerin, und ihre Worte: »Russland ruinieren«, also langer Krieg, Eskalation, Unheilvolles. Kann aus solchen Sätzen Gutes folgen?

Wie fühlt es sich an, wenn ein Krieg sich ankündigt?

Vielleicht so?

Im Ohr auf einmal auch eine Rede der Verteidigungsministerin, ich höre und ich sehe sie vor mir: freundlich, alltäglich, lächelnd, allerdings harter Mund, nur ein Strich, und da kommen Worte, die klingen wie von Kaiser Wilhelm II.: Wir beten für die Macht der Geschütze.

Du spinnst, denke ich noch, aber der Nachtmahr geht weiter: Da ist so viel verrutscht in Deutschland und der Welt, das übersehene Morden im Jemen, das stille Sterben in Syrien, der laute Krieg nun am Rande Europas, an den einen denkt man viel, an die anderen nicht.

Wird in ein paar Jahren ein neuer George Grosz den Horror wieder einfangen, ein Böll, ein Borchert verzweifeltverzweifelnd das unsägliche Leiden aufschreiben, wieder einmal? Wenn es zu spät ist, wieder einmal?

Schon irre, quält mich dieser Nachtmahr, wegen Grenzen, die künstlich gezogen worden sind, gehen nun Hundertausende Menschen drauf; Grenzen, die in ihrer Geschichte alle paar Jahrzehnte verschoben worden sind; nun, wie 1914/7, auch wieder so ein Gemetzel, liegen wieder Menschen im Schlamm und Dreck und Matsch und Eis, Gewehr im Anschlag, Kanonen hochgerichtet, wie 1942/3 – und schießen, morden, verstümmeln Menschen, und die russische Kirche segnet die Bomben, und die ukrainische Kirche segnet die Granaten, beide Seiten kämpfen mit Gott auf ihrer Seite, und »stell dir vor, es gäbe keine Länder/es ist nicht schwer, das zu tun./Nichts, wofür es sich lohnt zu töten oder zu sterben/und auch keine Religion./Stell dir vor, alle Menschen/leben ihr Leben in Frieden.«

Aber manche füllen sich die Taschen mit Euros und Dollars – gewissenlos, wie immer: Deutschland hat trotz Krimbesetzung und Waffenembargo nach 2014 Rüstungsgüter im Wert von 121,8 Millionen Euro nach Russland geliefert – 35 Prozent aller EU-Waffenexporte.

Wer, so martert mich mein Nachtmahr: Wer hat daran verdient? Die Herren des Kriegs? Deutsche Kleinaktionäre, die treuherzig ihr Geld in irgendwelchen Fonds angelegt haben?

Irgendwann, man weiß das aus allen Kriegen, wenn zu viele verreckt sind, wenn man weiß, was das Wort »kriegsmüde« tatsächlich bedeutet, muss verhandelt werden, egal, wie viele Waffen noch schussfähig sind, irgendwann rufen die Menschen nach Frieden.

»Imagine there’s no countries/It isn’t hard to do/Nothing to kill or die for/And no religion, too/Imagine all the people/Livin’ life in peace.«

Ein schönes Lied, 1971 von John Lennon gegen den Vietnamkrieg geschrieben, aber gut 50 Jahre später ist die Ultima Ratio wieder: Aufrüstung muss sein, mehr Waffen müssen in die Ukraine; Zeitenwende. Epochenbruch.

Epochenbruch! Zeitenwende! Was für geniale Formulierungen. Hinterhältige Begriffe. Raffinierte Wortprägungen der Regierenden, denn damit ist alle Verantwortung für den Gang der Dinge, das politische Tun der unergründlichen, nicht hinterfragbaren Macht des Schicksals zugewiesen. Man kann nicht anders. Deus lo vult!

Der Nachtmahr bringt mich ins Schwitzen.

Ich weiß, gegen die Ultima Ratio der vorherrschenden Gedanken kommt man nicht an – wenn man nicht einsehen will, dass diese »andere Welt, in der wir aufgewacht sind«, angeblich eine andere Vernunft verlangt. »Humanitär« in den Worten eines Grünen-Spitzenpolitikers sind nun: Waffen. Waffeneinsatz. Kriegsfähigkeit.

Für mich, alter Träumer, vom Nachtmahr geplagt, ist diese neue Humanität die uralte Brutalität. Die unmenschlich bleibt, wenn auch viele Menschen, die gestern noch Friedensfahnen durch die Gegend trugen, mit der gleichen moralischen Inbrunst jetzt auf Panzer und Granaten setzen.

Mal sehen, wo das alles endet.

Imagine all the people/Livin’ life in peace/

You …/You may say/I’m a dreamer.

Aber nicht der Einzige.

Hoffentlich nicht.

 

»Rauhnächte«: Buchpremiere mit Arno Luik;

Montag, 3. April in Hamburg, DRK-Haus Eimbsüttel,

Hoheluftchaussee 145, 16 Uhr, Eintritt frei.

 

SWR2 über den radikalen, schonungslosen Selbsterfahrungsbericht des Arno Luik: Hier.

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11 Kommentare

  1. Ohje, ich gewinne den Eindruck, diese Meldungen häufen sich.
    Gunnar Kaiser bereitet sich auf seinen Tod vor.

    Ich wünsche Ihnen Kraft und Unterstützung aus ihrem Umfeld.
    Gerne möchte ich auf die Interviews mit den Nahtod-Forscher und Kardiologen Pim van Lommel und den Neuropsychiater Peter Fenwick hinweisen, die vielleicht ein wenig Beruhigung in die so verständliche Angst bringen könnten. https://www.youtube.com/watch?v=bqM92biu4r0
    https://www.youtube.com/watch?v=J5SMP_7okX0

  2. Je nachdem welcher Krebsstadium diagnostiziert wurde, empfehle dieses Naturprodukt
    Annona Muricata Folium Graviola
    https://www.researchgate.net/publication/323676897_Potential_Benefits_of_Annona_muricata_in_Combating_Cancer_A_Review

    Zu John’s Lied ‚Imagine‘, sehe ich eine alte Karte aus Tataria, man müsste nur noch die EU auflösen und danach integrieren. Also der Yandex Navi ist diesbezüglich schon soweit fortgeschritten.
    Gute Besserung und einen guten Erfolg mit dem Buch
    Servus bis bald

      1. Seit knapp zehn Jahre konsumiere ich Kapseln mit einem Folium Oil Annona Muricata Ekstrakt, das hier in Asien günstig und leicht erhältlich ist. Der Grund dazu war, das eine Bekannte Brustkrebs hatte und sie wollte keine „Weiss“medizin bzw. Behandlung. Meine Frau empfahl das Produkt und sie war nach ein paar Monaten genesen.
        Da ich selbst kein Krebs habe, aber gelesen hatte, das dieses Extrakt auch beschädigte Zellen repariert, dachte ich probiere das mal selbst aus. Mit dem Effekt das am Glatzenansatz wieder Haare wuchsen, Eitelkeit kennt keine Grenzen.
        MfG PRO1

    1. Lieber Arno Luik,
      gerne hätte ich Sie persönlich angeschrieben, ich war eine Freundin u Kollegin Ihrer Schwester Doro.
      Ansonsten….tief erschüttert mich Ihre Krankheit. Ihr Buch ist so beeindruckend, wichtig und richtig, dass ich es im Verwandten/Freunden/Bekanntenkreis verschenken werde.
      So viel Menschen wie möglich sollten Ihre Worte u Gedanken auch zur politischen u gesellschaftlichen Situation lesen.
      Wir brauchen Sie! Bleiben Sie hier und dies ohne Leid und ohne Schmerzen.
      Sabine Schätzle

  3. Grundsätzlich wünscht man zwar gute Besserung und das soll nicht aufgesetzt und oberflächlich wirken, sondern kommt von ganzem Herzen.
    Angst vor dem Tod nimmt aber dem Körper, der Psyche und der Seele die Leichtigkeit, welche bei der Vitalisierung der körperlichen Reparaturmechanismen sehr förderlich sein können.
    Letztendlich gehört zu einem erfüllenden Leben der Wunsch und die Gewissheit, die Gesellschaft irgendwie vorangebracht und deren Menschen geholfen oder dies zumindest versucht zu haben. Da man immer nur für einen Zeitraum Gast auf Erden ist, darf man den Staffelstab dann auch weitergeben. Wichtig ist nur, dass es Mitstreiter gibt, denen man diesen Stab übergeben kann.
    Eingebunden in ein Wertesystem der Liebe, dem Wohlwollen gegenüber dem Mitmenschen, nimmt man die eigenen Probleme immer weniger wichtig und die allgemeinen oder konkreten anderer Menschen umso stärker.
    Wer liebt, wird aber das Gefühl haben, ewig zu leben, auch wenn er stirbt und es kein Weiterleben im jenseits gibt.
    Man wird in jedem guten Herzen weiterleben.

    1. da hier schon „kräuterlis und co“-heileritis und „Leichtigkeit, welche bei der Vitalisierung der körperlichen Reparaturmechanismen sehr förderlich sein können“ und ich seit 14 jahren „negativ“ (wobei ichs für die letzten zwei nicht „weiß“, weil kein arztgang mehr) :
      „sarscov2 hindert krebszellen am suizid“ 🙄 …..war ne überschrift + n inhalt vor etwa 2,5 jahren…..es nutzt halt derlei zur vermehrung, blockiert die „körperlichen Reparaturmechanismen“ (zelltod) …. und da hier schon „kräuterlis“ angeraten werden: naja, ivermectin bindet ein protein, was zur vermehrung notwendig ist, verhindert also vermehrung des aktuellen „bestandes“……“einmal krebs, immer wieder krebs“ – heißts und so ist mein ivermectin-junkie-tum neben autoimmun-blockieren auch iwie „krebsvorsorge“ begleitet von „Vitalisierung“smaßnahmen …….ka, inwieweit derlei „strohhalm“ bei laufender „chemo“ (körperschwächung ja auch) hilft noch, aber naja, jedem/r „ich war nie groß krank, aber nun plötzlich krebs“ würd ich diesen „testballon“ anraten 🙄 …..

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