Emran Feroz: „Die Taliban werden vor allem in den Städten Probleme haben, wo ihre jungen Kämpfer zum ersten Mal präsent sind“

Treffen der Führer der Mudschahedin und der Stämme mit Mullah Noorullah Noori, Minister für Grenz- und Stämmefragen, ein ehemaliger Taliban-Gouverneur, der 2002-2014 in Guantanamo war.

Emran Feroz über die Situation in Afghanistan, das mächtige Haqqani-Netzwerk, die Nationale Widerstandsfront, die Probleme des Taliban-Regimes und die Lage der Frauen.

 

Emran Feroz, geboren 1991 in Innsbruck, ist österreichich-afghanischer Journalist, der über den Nahen Osten und Zentralasien und vor allem aus Afghanistan berichtet. Er  ist für zahlreiche deutsch- und englischsprachige Medien tätig. 2017 erschien sein Buch „Tod per Knopfdruck“ über den US-amerikanischen Drohnenkrieg im Westend Verlag. 2018 folgte der Interviewband mit Noam Chomsky „Kampf oder Untergang!“ Kurz vor der Machtübernahme erschien sein neuestes Buch: „Der längste Krieg. 20 Jahre war on terror“.  Feroz ist Gründer von „Drone Memorial“, einer virtuellen Gedenkstätte für zivile Drohnenopfer. 2021 wurde Feroz für seine Arbeit mit dem österreichischen Concordia-Preis in der Kategorie Menschenrechte ausgezeichnet.

 

Wir wollen heute über die Situation in Afghanistan sprechen, nach der Machtübernahme der Taliban und besonders der Flucht der Nato-Truppen. Viele Afghanen haben, wie du auch mal geschrieben hast, erwartet, dass dann endlich mal Ruhe einkehrt in dem Land, in dem 20 Jahre Krieg herrschte. Von Ruhe kann man aber wohl nicht sprechen. Es finden immer wieder Angriffe und Anschläge statt.

Emran Feroz: Ja, richtig. Ich muss immer ganz am Anfang erwähnen, dass in Afghanistan schon seit über 40 Jahren Krieg herrscht und es der längste Krieg der Amerikaner ist. Ja, dieser Abzug oder die Flucht, wie du das genannt hast, hat stattgefunden, wir haben das alle auch mitbekommen. Da gab es einen Medienpeak fast wie nach den Anschlägen des 11. Septembers. Die Aufmerksamkeit hielt aber nur wenige Wochen und hat aber natürlich nicht wirklich ausgereicht, um die komplexe Lage vor Ort  zu erfassen, die bis heute weiter existiert, wo das Land vollständig von den Taliban kontrolliert wird. Aber es ist so, wie es auch einige Beobachter schon in den Jahren zuvor gesagt haben, dass in Afghanistan der Konflikt oder der Krieg zwar zu einem gewissen Zeitpunkt abnehmen wird, aber dass er immer noch da sein wird und kein vollständiger Frieden herrscht. Davon sind wir jetzt tatsächlich auch weit entfernt.

Wir haben die Taliban einerseits und andererseits den Islamischen Staat. Die letzten blutigen Anschläge, die begangen wurden, gingen auf das Konto der afghanischen IS-Zellen, sehr aktiv sind. Die Taliban verharmlosen diese Gefahr, obwohl sie hinter den Kulissen wissen, dass das noch ein sehr großes Problem für sie wird.

Weiß man denn, wie stark die der Islamische Staat eigentlich ist? Es scheint ja so zu sein, dass er auch Zulauf gefunden hat seit Beginn der Taliban-Herrschaft. Es könnte sein, dass manche der Taliban-Kämpfer zum IS überlaufen. Die Taliban werden zu einer Ordnungsmacht, aber die jungen Kämpfer wollen weiterhin das Abenteuer und vermissen die Möglichkeit, zum Märtyrer werden zu können.

Emran Feroz: Ja, vor dem wurde auch gewarnt. Der Islamische Staat in Afghanistan (IS-K)  ist jetzt seit ungefähr sieben, acht Jahren präsent, also kurz nachdem diese Gruppierung in Irak und Syrien auftrat. Es gab schon damals die afghanische Zelle, die aber kaum in Verbindung mit Abu Bakr al-Baghdadi und Co. stand. Es gab aber natürlich ideologische Schnittpunkte. Die Kommandanten des IS-K waren hauptsächlich Ex-Taliban. Auch Teile von Tehreek-e-Taliban Pakistan (TTP),  den pakistanischen Taliban, die in Pakistan auch brutale Anschläge ausführten, haben sich dem IS angeschlossen. Der IS war schon vor einigen Jahren in verschiedenen Regionen des Landes zu beobachten, vor allem im Nordosten, in der Provinz Nangarhar und in Kunar und in anderen ländlichen Gebieten.

2017 warfen die Amerikaner die sogenannte Mutter aller Bomben (MOAB) in der Provinz Nangarhar auf einen Tunnelkomplex ab, in dem sich der IS festgesetzt hatte. Als ich einen Monat später in dieser Region war, hieß es seitens der Taliban, dass die IS-Kämpfer schon weg gewesen waren und hauptsächlich Zivilisten getroffen wurden. Wer wirklich getroffen wurde, weiß man nicht, nach der offiziellen Version der damaligen afghanischen Regierung, die nicht dafür bekannt ist, glaubwürdig zu sein, sollen zwischen 90 und 100 IS-Kämpfer getötet worden sein. Die Taliban haben damals schon den IS bekämpft, für diesen waren sie von Anfang an ein Hauptfeind, weil es ähnliche Machtansprüche gab. In den Jahren darauf, so ab 2018, hat der IS auch Zulauf in den urbanen Zentren Afghanistans gewonnen. In Kabul war der IS plötzlich in der Lage, brutale Anschläge und Massaker gegen die schiitische Minderheit der Hazara auszuüben. Die meisten Hazara, nicht alle, sind Schiiten.

Neben den Taliban haben auch die Regierungstruppen und die Amerikaner den IS bekämpft. Es gab da auch sehr fragwürdige oder sehr interessante Schnittpunkte. Zum Beispiel fand im Sommer 2020 ein Angriff der Taliban gegen den IS in der Provinz Kundus statt, begleitet wurde diese Operation von US-Luftangriffen, also zugunsten der Taliban. Die Taliban haben das natürlich dementiert.

In Städten konnte man im Osten einen bürgerlichen Terror beobachten. Auch junge Männer aus gar nicht so ärmlichen Hintergründen, die sich beispielsweise an Universitäten radikalisierten, schlossen sich dem IS an. Sie kritisierten die Bildungsinstitutionen und gründeten ihre eigenen Zellen in den Städten. Gleichzeitig gab es auch Kritik an der afghanischen Ex-Regierung, weil es hieß, dass sie Elemente des IS instrumentalisieren würde, um gegen die Taliban vorzugehen. Das ist ein interessanter Punkt, der jetzt in der Gegenwart wieder Bedeutung erhält, weil es Berichte gibt, dass Ex-Soldaten sich dem IS angeschlossen haben sollen.

Es gab einen Anschlag des IS in einer schiitischen Moschee. Der Selbstmordattentäter soll ein Uigure gewesen sein. Seit einiger Zeit gibt es Verhandlungen zwischen den Taliban oder dem Islamischen Emirat und China. Gibt es da Neues zu berichten? Was wollen die Chinesen in Afghanistan? Wollen sie nur verhindern, dass der islamistische Terrorismus wieder nach China kommt? Oder geht es tatsächlich auch um mehr an geopolitischen Einfluss?

Emran Feroz: China hat seit mehreren Jahren schon gute Kontakte zu den Taliban, also wird dementsprechend Einfluss ausgeübt. Es gab auch einige Gerüchte, dass China in den letzten Jahren kritische Literatur gefördert hat in Afghanistan, die sich zugunsten der Taliban und der Taliban und gegen die Amerikaner, gegen die Besatzung, aussprach. China spielt mehrere Spielchen gleichzeitig. Von großem Interesse sind natürlich auch die Bodenschätze in Afghanistan, auf die man es abgesehen hat. Vor allem Lithium ist nicht nur für die Chinesen interessant, aber ich denke, dass man früh versucht hat, auf das richtige Pferd zu setzen, um einen besseren Zugang zu den Bodenschätzen zu haben und die eigene geopolitische Position in der Region auszubauen. Die Chinesen scheinen dabei schlauer als die Amerikaner zu sein. Ich glaube nicht, dass chinesische Truppen in Afghanistan einmarschieren werden, sondern es wird diese klassische Ausbeutung der Bodenschätze plus Verschuldung und so weiter geben. Vielleicht wird so auch die Urbanisierung Afghanistans vorankommen. Das ist in den letzten 20 Jahren nicht geschehen, weil die Amerikaner nur eine kurzsichtige Kriegswirtschaft betrieben haben.

Die Gefahr von Uiguren, die gegen China agieren, wird übertrieben. Die Taliban versuchen, mit diesen militanten islamistischen Akteuren einen Spagat zu machen. Auf der einen Seite will man die brüderliche Gastfreundschaft gegenüber diesen nicht verraten, auf der anderen Seite will man aber auch international anerkannt werden und mit den regionalen Staaten gut zusammenarbeiten. Das zeigt sich jetzt zum Beispiel an Tadschikistan, einer Diktatur. Der säkulare Diktator hat alle islamistischen Akteure verjagt, einige von diesen sollen sich auch in Afghanistan verschanzt haben. Wahrscheinlich ist die Zahl sehr überschaubar, ähnlich wie bei den Uiguren. Über die uigurischen Kämpfer haben wir kaum Informationen, auch nicht, wie viele Ausländer beim IS sind. Auch die Taliban versuchten immer, die gegen sie gerichteten Kräfte als ausländisch und von Geheimdiensten unterwandert darzustellen. Ich denke schon, dass es sehr viele Afghanen im IS gibt, aber auch einige Ausländer.

Jetzt hast du gesagt, die Taliban kontrollieren eigentlich das ganze Land. Präsent im Internet ist aber auch Ahmad Massoud, der in Tadschikistan sein soll,  mit der „Nationalen Widerstandsfront“. Es sollen Kämpfe stattfinden und die Taliban schwere Niederlagen erleiden. Ist denn da was dran?

Emran Feroz: Seine nationale Widerstandsbewegung hat jede Glaubwürdigkeit verspielt. Das beste Beispiel hierfür war die Lage in Pakistan im September, als die Taliban das Tal nach mehreren gescheiterten Verhandlungsrunden erobert haben. Da hat sich die Widerstandsbewegung, die hauptsächlich aus Warlords besteht, die ihren Machtverlust befürchten und die sich persönlich bereichert haben, komplett vertan, weil sie so viel Fake News verbreitet haben. Da hieß es zum Beispiel, pakistanische Drohnen würden die Taliban unterstützen bei der Eroberung des Pandschirtals. Videos von einem Computerspiel wurden verbreitet, was von indischen Medien aufgegriffen wurde. Indische Modi-Anhänger, die bekannt dafür sind, Fake News zu verbreiten, haben sich auch auf die Seite der nationalen Widerstandsbewegung in Afghanistan geschlagen und dementsprechend weiter das Image dieser Kämpfer beschädigt. Man weiß nicht, ob man der Propaganda der  Widerstandskämpfer oder der der Taliban mehr vertrauen kann. Es gab im Pandschirtal und im benachbarten Baglan Kämpfe, aber die Realitäten vor Ort sind sehr eindeutig.

Massoud selbst wird nicht mehr in Afghanistan sein. Diese Akteure sind zum ersten Mal ohne amerikanische Unterstützung. Sie haben ihre Lobbyisten in Washington, die versuchen, Geld und  Waffen zu sammeln. Ob das erfolgreich sein wird, glaube ich eher nicht. Dazu sind sie zu zerschlagen und haben zum Teil ihr eigenes Grab geschaufelt, weil sie sich in vielerlei Hinsicht so unglaubwürdig gemacht haben.

Die Taliban sind für die Kabuler Stadtbevölkerung komplett fremdartig, weil sie in einem anderen Umfeld aufgewachsen sind

Von außen sieht es so aus, als wären die Taliban eine hierarchisch geordnete Organisation. Aber es gibt ja vielen Fraktionen, vor allem den Haqqani-Clan, der offenbar nicht unbedingt harmoniert mit den anderen Taliban. Werden hier Brüche auftreten? Und dann gibt es ja auch noch die anderen Warlords, die natürlich auch ihre Interessen haben. Wie gefestigt ist die Herrschaft der Taliban oder des Islamischen Emirats?

Emran Feroz: Das sogenannte Haqqani-Netzwerk ist in den letzten Jahren die effektivste Anschlagstruppe der Taliban gewesen. Es war für viele brutale Anschläge in Kabul verantwortlich. Es ist paradox, dass diese Männer jetzt in den Hotels zu sehen sind, die sie vorher angegriffen haben. Die Haqqanis sind benannt nach Jalaluddin Haqqani, ein bekannter Mudschaheddin-Führer in den 1980er Jahren. Den Titel Haqqani bekommt man, wenn man das Seminar der Haqqania in Pakistan absolviert. Der Titel ist nach einer Universität benannt.

Eigentlich sind es Paschtunen des Zadran-Stammes, der vor allem im Südosten Afghanistans ansässig ist und jetzt sehr präsent ist. Die Kämpfer, die rekrutiert wurden, waren Zadran-Paschtunen. Sie wollen nun ihren Anteil des Kuchens, was sie auch durchgesetzt haben, weil sie sagten, sie seien die letzten 20 Jahre die Hauptschlagkraft der Taliban waren und hätten auch viele Opfer gebracht. Mehrere Söhne von Jalaluddin Haqqani, der zum Zeitpunkt der US-Besatzung schon ziemlich alt war, wurden bei Angriffen getötet. Sein Sohn Sirajuddin Haqqani wurde zum Militärchef ernannt und hat de facto in den letzten Jahren den Kampf der Taliban in Afghanistan dominiert. Auf ihn haben die USA ein Kopfgeld von 10 Millionen US-Dollar ausgesetzt. Er hat zahlreiche Drohnenangriffe überlebt. Jetzt ist er der Innenminister des neuen Taliban-Emirats. Man weiß noch immer nicht, wie er aussieht. Er verdeckt sein Gesicht

Dann gibt es noch seinen Onkel Khalil Ur Rehman Haqqani, der Minister für Flüchtlinge ist. Auf ihn ist ein Kopfgeld von 5 Millionen US-Dollar ausgesetzt. Er spaziert noch immer mit seiner Kalaschnikow in der Stadt herum, vielleicht fühlt er sich bedroht.

Diese Männer sind für die Kabuler Stadtbevölkerung komplett fremdartig, weil sie in einem anderen Umfeld aufgewachsen sind. Sie haben in den letzten Jahren vor allem damit für Aufsehen gesorgt, dass sie die Stadtbewohner angegriffen und unschuldige Kabulis als US-Soldaten oder afghanische Geheimdienstler abgestempelt haben.

Dieser Haqqani-Zweig ist jetzt schon sehr dominant. Während der Abzugsgespräche mit den Amerikanern, die in den letzten Jahren geführt wurden, waren eher andere Taliban präsent, zum Beispiel  Abdul Ghani Baradar, der als rechte Hand von Mullah Omar galt. Mohammad Hassan Akhund, auch ein Vertrauter von Mullah Omar, ist jetzt das offizielle Staatsoberhaupt. Er hatte Mullah Omar  den Umhang des Propheten in Kandahar während seiner „Krönung“ Ende der 1990er umgehängt.

Da sind Paschtunen aus Kandahar, aus dem Süden des Landes,  auf der anderen Seite stehen die Zadran-Paschtunen aus dem Osten Afghanistans. Zwischen diesen gibt es natürlich Rivalitäten und  ideologische Unterschiede. Allerdings wurde auch darüber in den letzten Wochen und Monaten viel Quatsch verbreitet, dass davon wieder die Taliban punkten und behaupten konnten, sie seien eine Einheit. Zum Beispiel hieß es, die Haqqanis hätten Mullah Baradar erschossen. Das hat sich als falsch herausgestellt. Dort, wo die Rivalitäten deutlich werden, wird sehr stark übertrieben. In Afghanistan ist Cricket ein sehr beliebter Sport. Und da hieß es gerade, dass die Haqqanis und die Kandaharis jeweils ihren Mann als Chef des Cricket Boards durchsetzen wollten, wobei es zu Gewaltausbrüchen gekommen sei.Was nicht stimmt.

Es gibt sehr viele ideologische Unterschiede. Es gibt Taliban unter den Haqqanis, die zum Beispiel eher dafür sind, dass Mädchen in die Schule gehen dürfen, während Taliban der Kandaharis im Süden dagegen sind. Das war auch in den 1990er Jahren schon so. Aber tatsächlich war es so, dass in den letzten 20 Jahren die Taliban im Vergleich zu vielen anderen afghanischen Akteuren einheitlich oder einheitlicher als diese aufgetreten sind. Das beste Beispiel hierfür ist  das Szenario, das sich 2014 und vor eineinhalb Jahren nach den Präsidentschaftswahlen abgespielt hat, als Ashraf Ghani und sein Kontrahent Abdullah Abdullah sich gestritten haben, wer denn nun Präsident ist. Am Ende mussten immer die Amerikaner intervenieren und den Präsidenten bestimmen. So hat man oft gesehen, dass die politische Elite in Kabul überhaupt nicht einheitlich ist, während sie gleichzeitig versucht hat, die Taliban als uneinheitlich zu porträtieren. Das ist oft danebengegangen.

„Die Taliban konnten in den letzten zwanzig Jahren von der Korruption des ehemaligen Regimes profitieren“

Jetzt sind die Taliban ja vor allem lauter kampferprobte junge Männer in archaischer afghanischer Kleidung, die islamistisch orientiert sind. Ist es denn überhaupt vorstellbar, dass sie jetzt nach 20 Jahren Krieg plötzlich einen funktionierenden Staat aufbauen können und ganz normale politische und behördliche Tätigkeiten aufnehmen?

Emran Feroz: Man muss bedenken, dass die Taliban in den letzten zwanzig Jahren von der Korruption des ehemaligen Regimes profitieren konnten. Das heißt, der Taliban sah gut aus, weil der Regierungsvertreter korrupt war und seine Arbeit nicht richtig gemacht hat. Aber das Regime ist nicht mehr da und jetzt müssen die Taliban, die in den letzten 20 Jahren als extremistische Guerillabewegung aktiv waren, den Staat führen. Ich denke, es ist sehr schwierig, dass sie dabei erfolgreich sein können. Es gibt unter den Taliban auch pragmatische Akteure, die eher geeignet wären, aber die stehen jetzt im Hintergrund. Die Übergangsregierung, die von den Taliban ernannt wurde und in der die Haqqanis und die alten Garden von Mullah Omar das Sagen haben, ist sehr rückwärtsgewandt. Jüngere Gesichter oder wortgewandte Männer, die die Welt gesehen haben, die es auch bei den Taliban gibt, findet man hier nicht.

Ein Beispiel hierfür ist Sher Mohammad Abbas Stanikzai, der das Taliban-Büro in Katar geleitet hat und auch bei den Verhandlungen mit den Amerikanern federführend war, galt als realistischer und pragmatischer als jene, die nun das Sagen haben. Abbas hat, und das ist sehr interessant, den gleichen Posten erhalten wie vor über 20 Jahren und wurde wieder zu einem stellvertretenden Außenminister. Er wurde also nicht einmal befördert für das, was er auf der internationalen Bühne geleistet hat. Ähnlich verhält es sich mit anderen.

Das ist natürlich schlecht, sodass die Taliban auf jeden Fall Probleme haben werden, vor allem in den Städten, wo ihre jungen Kämpfer zum ersten Mal präsent sind. Das sind Kämpfer, die nur den Krieg kennen und die im Krieg in ihren Dorfgemeinschaften aufgewachsen sind.

Schon jetzt gibt es viele Probleme in der Stadt und mit den Stadtmenschen. Viele Afghanen sind nicht zufrieden, wenn die Taliban in die Stadt einmarschieren und den Menschen den echten Islam erklären wollen. Viele Afghanen nehmen ihren Glauben sehr ernst und sagen: Hey, was fällt euch ein, wir waren zuvor auch schon Muslime. Vor allem in so traditionsreichen Städten wie in Kabul oder in Herat im Westen des Landes an der Grenze zum Iran, die eine sehr tiefgehende theologische Geschichte haben, lassen sich das die Menschen nicht gefallen. Die Taliban treten mit ihrem Verhalten auch in den konservativen Strukturen Afghanistans vielen Menschen auf die Füße

Und international ist der afghanische Staat ohne ausländische Hilfsmittel nicht überlebensfähig. Dabei ist es völlig egal, wer regiert. Dieser Staat kann nicht ohne ausländische Hilfsgelder überleben. Es gab eine kurzsichtige Wirtschaftspolitik, die nur dem Krieg der Amerikaner gedient hat, aber es wurde kein  langfristiges Wirtschaftsmodell aufgebaut. Das werden die Taliban wahrscheinlich auch nicht lösen. Deshalb denke ich, dass die Menschen in diesem Land noch mit sehr, sehr vielen Problemen konfrontiert werden.

Und dann ist natürlich die Frage, was mit den Frauen geschieht, die bei den Taliban bislang keine Rolle spielen? In ein paar Provinzen dürfen offenbar wieder Mädchen in die Schule gehen, aber insgesamt schaut es doch eher düster aus.

Emran Feroz: Das Frauenministerium wurde von den Taliban abgeschafft und es gibt keine einzige Frau, die einen Regierungsposten innehat. In den meisten afghanischen Provinzen dürfen Mädchen systematisch von der siebten bis zur zehnten Klasse nicht mehr in die Schule und die Universitäten sind auch noch gesperrt. In einigen wenigen Provinzen hat sich das geändert, und es gibt Privatunis in den Städten, die relativ frei sind, aber spielt natürlich Geld eine Rolle. Aber ansonsten sieht es ziemlich düster aus für die Rolle der Frau. Viele Aktivistinnen sind schon im Untergrund oder sind geflüchtet.

Daran wird auch klar, dass der  imperialistische Feminismus, der in den letzten 20 Jahren in Afghanistan vorherrschte, gescheitert ist. Wenn man da Laura Bush oder Hillary Clinton und so weiter gehört hat, waren das ziemlich leere Versprechen, die die Ignoranz deutlich gemacht haben.

Die Lage der Frau ist natürlich sehr bedauernswert in Afghanistan, da gibt es überhaupt nichts schönzureden. Manchmal sagen dann manche aber auch ganz überrascht, wenn dann doch Mädchen in die Schule gehen dürfen oder doch mehr Schulen geöffnet werden, die Taliban seien doch gar nicht so schlimm, wie sie dargestellt wurden.

Es herrscht ja auch teils brutale Gewalt. Es zirkulieren Videos, auf denen zu sehen ist, wie Taliban-Kämpfer willkürlich und brutal Gewalt ausüben, Menschen zusammenschlagen, auspeitschen und aufhängen, das betrifft speziell Mitarbeiter der früheren Regierung. Man sollte meinen, es müsse eine Massenflucht geben, aber das scheint noch nicht der Fall zu sein.

Emran Feroz: Geflohen sind hauptsächlich die politischen Eliten, die sich massiv bereichert,  den ganzen Staatsapparat in den letzten 20 Jahren ausgehöhlt und jegliche Institution missbraucht haben. Problematisch ist, dass einige dieser Akteure in Deutschland, in den USA und anderswo jetzt als Experten auftreten, als neutrale Beobachter, die jetzt erklären, dass ihr uns verraten und vergessen habt. Aber so einfach ist es natürlich nicht. Man muss immer ganz genau hinschauen, wer das sagt.

Viele Menschen können sich eine Flucht schlicht nicht leisten. Es gibt auch sehr viele Menschen in Afghanistan, vor allem in den ländlichen Regionen, die so extrem kriegsmüde waren, dass es für sie eine große Sache ist, wenn keine Militäroperationen und Luftangriffe mehr stattfinden, dass es keine US-Truppen, die in ihre Häuser eindringen, mehr gibt. Das ist mir in meinen Recherchen auch immer aufgefallen, dass viele den Krieg so satt hatten und es für sie die Hauptsache war, dass irgendeine Seite gewinnt und dann Ruhe eintritt.

Viele Afghanen können es sich nicht leisten zu fliehen, viele wollen aber auch nicht. Sie denken, sie haben schon so viel ausgehalten, dann halten wir das jetzt auch noch aus und schauen, wie das wird. Für viele Afghanen ist die Hauptsorge die wirtschaftliche Situation. Das ganze Land steckt in einer humanitären Katastrophe. Es gibt auch viele Binnenflüchtlinge. Die Hilfsgelder sind aber noch eingefroren. Man hat diese ganze Situation maßgeblich mitverursacht und will jetzt die Menschen im Kollektiv sanktionieren, die noch dort sind. Natürlich wollen viele raus aus Afghanistan, nach Pakistan oder in den Iran. Aber es ist sehr schwer in diesen Tagen mit der Ausreise mit den alten Dokumenten geworden. Es kann schon noch eine Massenflucht stattfinden sollte, wenn die wirtschaftliche Situation weiterhin so eskaliert, dann wird es wohl am stärksten die Nachbarstaaten Iran und Pakistan treffen.

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