Die Verschwörung, Folge 23 — Heimatschutz

WTC nah
Bild: privat

Krise in Washington: Harry Burton ist im Mittleren Osten, Tom Powder ist nicht zu finden und der Präsident ist unansprechbar. Oriniko Oil ist dazu verdonnert, ihn zu hüten und sie hat einen Zusammenstoß mit dessen Mutter. Als Burton von einem Attentäter erschossen wird, springt der Vater des Präsidenten ein. Er verhängt eine Reihe „Sicherheitsmaßnahmen“. Powder konfrontiert Drillson und Rave mit seinen Entdeckungen. Aber das geht nicht gut aus …

 

Ein schabendes Geräusch, dann ein dumpfer Knall. Orinoko Oil schreckte hoch. Der Präsident lag flach auf dem Teppich und grunzte. Er war schon wieder von der Couch gefallen. Die ganzen letzten Wochen hatte er auf der rosageblümten Couch im Schlafzimmer des Weißen Hauses verbracht, die Beine auf zwei Kissen gebettet. Nun waren seine Augen halb geöffnet und blutunterlaufen. Außer Boxershorts trug er nichts. Der Präsident musste mehr als dreißig Kilo zugelegt haben. Orinoko vermutete, dass es sich hauptsächlich um eingelagertes Wasser handelte. Der Präsident trank extrem viel, aber es ließ ihn trotzdem fett aussehen.

Er war seit mehr als zwei Wochen nicht mehr öffentlich aufgetreten und langsam begann sich ganz Washington zu fragen, was los war. Hinzu kam, dass auch Burton noch immer irgendwo im Mittleren Osten war. Und so führte Drillson in diesen Wochen offiziell die Geschäfte. Doch irgendetwas würde bald geschehen müssen, dachte Orinoko.

Wo war nur Albert Rave immer, wenn es unangenehm wurde? Wenn wenigstens Linda häufiger vor Ort wäre! Eigentlich wäre es deren Aufgabe gewesen, ihren Mann zu pflegen. Aber die First Lady ließ sich kaum noch im Weißen Haus blicken. Nach dem Frühstück verschwand sie meist in einen Umhang gekleidet, mit einem Hut und einer dunklen Sonnenbrille auf der Nase. Oft kam sie erst spät abends durch einen unterirdischen Eingang zum Weißen Haus zurück, den die Presse nicht kannte.

Ein halbes Dutzend Ärzte war bereits im Weißen Haus gewesen. Rave hatte sie hergebeten und natürlich zur Geheimhaltung verpflichtet. Leider hatte noch kein Arzt herausgefunden, was den Präsidenten so dramatisch aufschwemmte, geschweige denn, wie dies rückgängig zu machen sei. Aber alle hatten sehr besorgt ausgesehen. Den Journalisten hatte Rave gesagt, der Präsident habe sich beim River-Rafting in Texas eine schwere Grippe zugezogen und er müsse das Bett hüten. Seine Frau sei bei ihm. Beide wollten auf keinen Fall gestört werden.

Dass der Präsident ausgerechnet jetzt ausfiel, erfüllte nicht nur Orinoko, sondern auch Rave und Drillson mit zunehmender Sorge. Offiziell hatte Washington es begrüßt, dass Khalid Ibn Sultan, der neue Herrscher, endlich die Demokratie nach Saudi-Arabien gebracht hatte. Newsweek und Time hatten ihm ihre Titelgeschichte gewidmet. Der Economist hatte unter Berufung auf Geheimdienstkreise geschrieben, dass der Thronfolger für Burtons Ölfirma gearbeitet hatte, die in Saudi-Arabien, Kuwait und Pakistan operierte, was erklärte, dass er im Königshaus bislang noch nicht in Erscheinung getreten war. Burton hatte angekündigt, er werde in dieser Woche nach Washington zurückkehren, aber Drillson war sich nicht sicher, ob ihm das gefiel. Eigentlich war er sich sogar sicher, dass ihm das ganz und gar nicht gefiel.

Auch Powder trat kaum mehr öffentlich auf, so dass die Presse in ihren Leitartikeln fragte, ob der Außenminister womöglich amtsmüde sei. Die New York Times hatte gemutmaßt, dass eine Regierungsumbildung anstehe. Denn Burton, so hatte der für den Mittleren Osten zuständige Kolumnist geschrieben, habe durch seinen Einsatz für Demokratie in Saudi-Arabien in einer einzigen Woche mehr geleistet als Drillson in einem halben Jahr Irakkrieg. Zumal das Militär bisher weder Saddam Hussein noch Osama Bin Laden habe fangen können.

»Wasch …«, lallte der Präsident, der inzwischen wieder auf der Couch lag. Das hieß »Wasser«, wie Orinoko herausgefunden hatte. Eigentlich hatte er genug getrunken, aber die Ärzte sagten, Wasser könne ihm nicht schaden.

»Einen kleinen Moment«, sagte sie. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt verstehen konnte. »Ich bringe Ihnen gleich …«

»Was ist denn hier los«, sagte eine entsetzte, weibliche Stimme aus Richtung des Eingangs. Eine Stimme, deren schriller, wenngleich bekannter Klang Orinoko durch Mark und Bein drang. Sie fuhr herum. Die Mutter des Präsidenten stand im Türrahmen und sah so aus, als ob sie jede Sekunde auf Orinoko losgehen würde.

Instinktiv kreuzte Orinoko ihre Arme vor der Brust. »Der Präsident«, stammelte sie unsicher, »ist krank.« Sie hatte es bis heute nicht ganz geschafft, die Angst vor Wilburs Frau abzulegen.

»Das sehe ich«, gab Eleanor scharf zurück. »Was haben Sie bloß mit ihm angestellt? Und was wollten Sie ihm denn gerade einflößen?«

»Wasser«, antwortete Orinoko. Es klang noch immer defensiv. »Es ist nicht meine Schuld, dass er krank ist. Wir wissen selbst nicht, was ihm fehlt. Es waren schon viele Ärzte hier und die haben …«

»Und wo ist überhaupt seine Gattin?«, fiel ihr Eleanor ins Wort. »Sollte die nicht bei ihm sein?«

Orinoko war es zwar neu, dass Eleanor Linda besonders mochte, aber insgeheim gab sie ihr recht. »Ich weiß es nicht«, sagte sie und machte einen Schritt auf die Mutter des Präsidenten zu. »Kommen Sie, sonst stören wir ihn«, erklärte sie und machte Anstalten, Eleanor am Ellbogen zu fassen und aus dem Raum zu bugsieren.

Eleanor trat demonstrativ ein paar Schritte zurück. »Unterstehen Sie sich, mich anzufassen«, zischte sie. »Wollen Sie sich hier etwa einschleichen und ausnutzen, dass seine Ehefrau nicht da ist?«

Orinoko spürte, wie die Empörung in ihr aufstieg. Das musste sie sich nicht bieten lassen. »Was bilden Sie sich eigentlich ein«, sagte sie, jetzt ein wenig lauter. »Glauben Sie etwa, ich habe es nötig, mich hier einzuschleichen? Ich wäre heilfroh, wenn ich hier nicht herumsitzen und auf ihn aufpassen müsste.«

»Meinen Sie etwa, mein Sohn ist Ihnen nicht gut genug, um ihre wertvolle Zeit mit ihm zu verschwenden?« giftete Eleanor sie nun offen an.

»Wissen Sie was?« Orinoko spürte, wie ihre Angst allmählich der Wut wich. »Wir sind hier in einer ernsthaften Regierungskrise. Merken Sie nicht, dass Sie stören? Sie machen alles nur noch komplizierter!«

»Ich glaube«, gab Eleanor unbeirrbar giftig zurück, »dass Sie etwas vor mir verbergen. Ich habe Ihnen noch nie getraut. Und mein Sohn …«

Ihr Sohn war weg. Der Präsident war von der Couch, auf der er zehn Tage lang gelegen hatte, verschwunden. Er hatte nichts als eine tiefe, präsidentenförmige Delle hinterlassen. Und die Tür an der Rückseite des Schlafzimmers stand weit auf.

»Verdammt«, stieß Orinoko hervor. Sie stieß die Mutter des Präsidenten beiseite, stürmte in das Schlafzimmer und durch die offene Tür. Am Treppenabsatz blieb sie verwirrt stehen. Wo war er bloß? Er konnte nicht weit gekommen sein.

Aber der Präsident war weg. Spurlos verschwunden.

»Mein Gott«, keuchte hinter ihr eine Stimme, der das Entsetzen deutlich anzuhören war. »Mein Gott, er ist … mein Sohn ist …« Die Mutter des Präsidenten griff sich ans Herz, als habe sie Schmerzen. Dann brach sie zusammen.

Orinoko starrte zögernd auf die reglose Gestalt. Dann drehte sie sich um und warf einen Blick auf die Couch. Dort blinkte etwas. Orinoko trat näher heran, beugte sich über die Delle und griff danach. Es war ein winzig kleiner zickzackförmiger Draht. Als sie ihn anfasste, durchfuhr sie ein Schlag, so stark wie ein Stromstoß. Sie sah sich um. Auf dem Boden neben der Couch lag ein T-Shirt. Sie wickelte es um ihre Hand, packte den unter Strom stehenden Draht noch einmal und presste ihn dann mit aller Kraft auf Eleanors Brust, dort, wo sie deren Herz vermutete.

Albert Rave sah sich um. So voll war der Pressesaal des Weißen Hauses schon lange nicht mehr gewesen. Offenbar war die Nachricht durchgesickert. »Meine Damen und Herren von der Presse und vom Fernsehen«, sagte er. »Ich habe Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen. Unser Vizepräsident Harold H. Burton ist heute Morgen in Jeddah einem Attentat zum Opfer gefallen.« Als die Journalisten aufsprangen und begannen, alle durcheinanderzubrüllen, hob er die Hand. »Er wird durch jemanden ersetzt, der Ihnen allen gut bekannt ist.« Damit drehte er sich um. Hinter ihm stand Wilbur, der Vater des Präsidenten.

Der hüstelte. »Ich kann meinem tiefen Bedauern und Entsetzen kaum Worte verleihen. Harry Burton, mein langjähriger politischer Weggefährte und ein verdientes Mitglied unserer Regierung ist heute Morgen einem feigen Attentat von Terroristen zum Opfer gefallen.« Wilbur legte seine Stirn in sorgenvolle Falten. »Aber ich werde mein Bestes tun, um ihn würdig zu vertreten.«

Rave zeigte mit der Hand auf den Fernsehreporter in der ersten Reihe, der schon kurz vorm Platzen war. »Bitte, Featurenews Universal Corporation«, sagte er.

»Wer ist für diesen Anschlag verantwortlich?«, rief der Reporter von FUC News. »Haben wir die Kerle schon?«

»Leider nein«, antwortete Rave. »Aber ich bin mir sicher, dass das nur eine Frage von Tagen ist. Das Wall Street Journal, bitte!«

Der Korrespondent des Journals schoss hoch. »Können Sie Stellung zu den Gerüchten nehmen, der Präsident sei gesundheitlich so angeschlagen, dass er nicht mehr amtieren kann?«, fragte er.

Rave drehte in einer Geste, die beruhigend wirken sollte, beide Handflächen nach außen. »Dies ist eine Frage für den amtierenden Vize-Präsidenten«, sagte er und nickte Wilbur aufmunternd zu.

Der hüstelte. »Ich muss ihnen leider bestätigen, dass mein Sohn, der Präsident, gesundheitlich schwer beeinträchtigt ist. Aber Ärzte sind bei ihm und ich vertrete ihn in dieser schwierigen Zeit, in der wir mehr denn je von Terror und Krieg bedroht sind, so gut ich kann.« Dann wandte er sich Benito Giovanni zu, der neben ihm stand. »Unser Beauftragter für den Heimatschutz, die CIA und die Generalstaatsanwaltschaft wird Ihnen nun mitteilen, wie wir gedenken, der Situation Herr zu werden.«

Giovanni zog seine schmalen Lippen in eine Stellung, die er für ein Lächeln hielt und trat einen Schritt vor. »Um vor ausländischen Terrorbanden sicher zu sein, haben wir beschlossen, die Grenzen zu Kanada und zu Mexiko zu schließen«, sagte er. »Außerdem werden wir alle Internet-Server abschalten, die in Europa oder im Mittleren Osten stationiert sind. Das heißt, dass Sie derzeit nur Zugriff auf inländische Websites haben. Das Gleiche gilt für ausländische Zeitungen und TV-Sender. Diese Maßnahme ist nur vorübergehend und dient Ihrem eigenen Schutz.«

Die Presse sah ihn fassungslos an. »Gilt das auch für die BBC?«, fragte die Reporterin von Associated Press. Sie sah sich um. Der Platz, auf dem der BBC-Korrespondent sonst saß, war leer.

»Das gilt auch für die BBC«, sagte Rave und lächelte eine Spur zu selbstgefällig.

»Haben Sie wenigstens irgendeinen Verdacht, wer für das Attentat auf Harry verantwortlich sein könnte?« insistierte der Reporter von FUC News noch einmal.

»Wir vermuten, die Täter stammen aus Kreisen islamischer Fundamentalisten, die gegen die demokratischen Bestrebungen im Mittleren Osten mobil machen wollen«, sagte Wilbur. »Aber diese Terroristen haben keine Chance gegen den Willen zur Freiheit. Wir werden sie fangen und jagen, wo auch immer sie sich verstecken.«

Der Korrespondent der New York Times hob die Hand. »Was hat es denn mit dem Gesetzesentwurf 1456/35B auf sich, der dem Weißen Haus erlaubt, noch vor der Drucklegung Einsicht in Presseveröffentlichungen zu erlangen und diese gegebenenfalls zu untersagen, falls die nationale Sicherheit es erfordert?«

Rave räusperte sich. »Das ist eine rein protektive Maßnahme«, antwortete er. »Solange die Terroristen, die den Vizepräsidenten der USA ermordet haben, noch auf freiem Fuß sind, sind auch diese Maßnahmen für den Schutz der Bevölkerung leider nötig. Um Ihren Bedenken Rechnung zu tragen, haben wir jedoch einen Pressebeauftragten ernannt, der sich darum zu Ihrer vollsten Zufriedenheit kümmern wird.« Und, als Rave sah, wie sich ein Wald aus Händen hob, fügte er hinzu: »Es ist der Ihnen wohlbekannte FUC-Senderchef Joe Brisbane.«

Die Journalisten sahen einander an. Dann meldete sich der Korrespondent der Washington Post zu Wort. »Ich habe eine Frage an den amtierenden Vize-Präsidenten«, sagte er zu Wilbur. »Sollte es in dieser Situation nicht Neuwahlen geben?«

Wilbur nickte. »Zunächst einmal hoffen wir, dass sich mein Sohn, der Präsident, gesundheitlich wieder erholt«, antwortete er. »Aber wenn das nicht geschieht, wird es selbstverständlich Neuwahlen geben. Allerdings muss vorher noch eine Reihe technischer Details geklärt werden. Nach den Problemen mit der Auszählung der Stimmen beim letzten Mal wird die nächste Wahl mit Hilfe einer neu entwickelten Computersoftware abgewickelt, die in sämtlichen Staaten zeitgleich eingesetzt werden soll. Damit soll gewährleistet werden, dass es nicht zu Unregelmäßigkeiten kommt. Außerdem werden wir auf die mühselige Auszählung von Stimmzetteln, die oft genug fehlerbehaftet sind, verzichten. Die gesamte Wahl findet online statt.«

Kaum waren die Journalisten gegangen, stieß Dewey Drillson zur Gruppe der Redner hinzu. »Das ging doch gut«, meinte der Pentagon-Chef und klang so aufgeräumt wie schon lange nicht mehr. Auch Rave lächelte.

Wilbur legte Drillson den Arm um die Schultern. »Dass wir beide noch einmal zusammenarbeiten, mein lieber Dewey«, sagte er fröhlich und sah sich dann um. »Wo bleibt der Schampus?«

Wie auf Bestellung – und vermutlich war er auch bestellt – kam einer der Pagen mit zwei Champagnerkübeln herein. Wilbur griff eine der Flaschen, öffnete den Drahtverschluss und fing an, am Korken zu drehen. Erst als Rave den Fernseher in der Ecke auf laut stellte, sah er hoch.

»Wie der amtierende Vizepräsident weiter erklärte, sind all diese Maßnahmen nur aus Gründen des Heimatschutzes notwendig«, sagte die Stimme im Fernsehen. »Derweil hat Verteidigungsminister Drillson der arabischen Liga angedroht, dass die Verbrecher, die für den grausamen Mord an Vizepräsident Burton verantwortlich sind, unverzüglich ausgeliefert werden müssen. Andernfalls würden weitere Truppen nach Saudi-Arabien entsandt und darüber hinaus …«

Ein weiterer Page kam herein. Er trug eine große Platte mit Scampi im Backteig, rosafarbenen Lammkoteletts, Spargelröllchen, mit Schinken umwickelten Backpflaumen und einem Schälchen mit Avocado-Dip. »Wo darf ich das hinstellen?«, fragte er.

»Auf den Tisch«, sagte Wilbur. Er hatte das Kommando ganz natürlich übernommen, so als sei er niemals weg gewesen. Der Korken knallte. »Wer möchte Champagner?«

Rave langte nach der Fernbedienung und schaltete um. »CNN wird es sowieso bald nicht mehr geben«, sagte er.

Auf FUC liefen gerade lokale Nachrichten aus Washington, D. C. »… sofort tot. Wie die Polizei weiter mitteilte, konnte die Identität des Erschossenen nicht geklärt werden«, sagte ein Sprecher. »Der Polizeibeamte betonte, dass der stark aufgeschwemmte Mann unbekleidet und in völlig verwirrtem Zustand auf die Polizeistreife zugestürmt sei und lautstark gefordert habe, sofort ins Weiße Haus gebracht zu werden. Er sei der Präsident, habe der Mann behauptet. Nachdem er auf Zurufe sowie auf einen Warnschuss nicht reagierte, habe sich die Streife gezwungen gesehen, den Mann mit einem gezielten Schuss außer Gefecht zu setzen. Über sein Motiv wird zur Stunde noch gerätselt.«

Damit blendete FUC das Bild eines sehr dicken, vollkommen nackten Mannes ein. Nur wer ihn sehr gut kannte, konnte in den aufgequollenen Zügen seines toten Gesichts den Präsidenten erkennen. Beziehungsweise den Klon, den alle Welt für den Präsidenten gehalten hatte.

Das war knapp! Tom Powder blieb abrupt stehen, sog die Luft ein und presste sein Mobiltelefon gegen die Brust. Aber der Mann in der grauen Uniform der Streitkräfte, der gerade höflich nickend an ihm vorbeigegangen war, hatte ihn offenbar nicht gehört. Oder wenigstens nicht verstanden, wovon er redete.

Powder sah sich in der Lobby des Pentagon um. Niemand war mehr in seiner Nähe. Er griff wieder nach dem Telefon. »Bitte, Linda, beruhige dich«, sagte er. »Ich weiß, dass du Angst hast, aber ich muss es einfach tun! Ich kann nicht anders! Nicht jetzt!«

Dann hörte er ihr wieder zu. »Was sollen die mir schon antun«, erwiderte er. »Außerdem hast du doch Kopien aller Akten. Ich habe schon viel zu lange gezögert. Burton könnte vielleicht noch leben, wenn ich schon letzte Woche in die Offensive gegangen wäre. Und du weißt nicht, was sie noch alles vorhaben.«

Wieder ließ er sie reden. »Ja, versprochen, ich rufe dich danach sofort an«, sagte er. »Ich liebe dich.« Er legte auf. Nun gab es kein Zurück mehr. Er ging geradewegs zu Drillsons Büro.

Seit dem Attentat auf Burton und der Machtübernahme durch Wilbur und Drillson wusste er, dass eine Diktatur bevorstand. Es würde keine Wahlen mehr geben. Zumindest keine, die diesen Namen verdienten. Er hatte tagelang darüber nachgedacht, was er tun sollte, aber dies schien ihm der einzig richtige Weg zu sein. Er würde den Verteidigungsminister mit allem, was er wusste, konfrontieren und danach die Presse informieren. Er hatte einige Kopien der Akten dabei, die er aus dem CIA-Archiv hatte mitgehen lassen. Zur Sicherheit trug er noch ein digitales Aufzeichnungsgerät bei sich, das er in der Innenseite seines Jacketts versteckt hatte.

Vor Drillsons Bürotür holte er noch einmal tief Luft, klopfte und trat ein. Der Verteidigungsminister saß an seinem Schreibtisch und sah auf. Neben ihm lehnte Albert Rave und beugte sich über ein Schriftstück, das Drillson gerade las. Seine braune Aktentasche lehnte an einem Bein des Schreibtischs. Powder dachte an die Fotos, die vielleicht noch immer darin waren, und fühlte Hass in sich aufsteigen. Nein, er würde sich nicht kleinkriegen lassen. Nicht von denen.

»Äh … hatten wir einen Termin?«, fragte Drillson irritiert.

»Nein«, sagte Powder, griff in seine Aktentasche, holte eine Kopie der Akte Bormann hervor und warf sie auf Drillsons Schreibtisch. »Aber ich denke, Sie werden mich auch ohne Termin anhören. Kommt Ihnen das womöglich bekannt vor?«

Drillsons Gesicht wurde kalkweiß, aber er hatte sich erstaunlich gut im Griff. »Nicht, dass ich wüsste«, sagte er. »Was soll denn das sein?«

Rave hingegen schoss aufgeregt hoch. »Wo haben Sie denn das her?!«, rief er.

»Die interessantere Frage ist«, sagte Powder, »was hat das Ganze mit Ihnen zu tun? Und wer sind Sie eigentlich?«

»Was meinen Sie? Der Kommunikationsdirektor des Weißen Hauses, das wissen Sie doch!«, sagte Rave gereizt. Ob Rave tatsächlich nicht ahnte, worauf Powder hinauswollte? Drillson hingegen wusste es. Das konnte er an dessen Gesichtsausdruck ablesen.

Powder sah dem Pentagon-Chef direkt ins Gesicht. »Zuerst will ich wissen, was es mit diesem ›Zarathustra-Phobos-Projekt‹ auf sich hat.«

Drillson zuckte mit den Schultern. »Das ist nichts, was Sie interessieren müsste«, antwortete er. »Es ist ein wissenschaftliches Programm, bei dem medizinische Entwicklungen erforscht, vertieft und angewendet werden. Im Kern geht es um die Verbesserung von Erbgut. Das Projekt ist im Interesse der USA.«

»Im Interesse der USA?«, fragte Powder und wurde lauter. »Für wen arbeiten Sie wirklich, Mister Drillson? Oder soll ich Sie lieber Bormann nennen? Für unser Land oder für Ihre Freunde vom Totenkopfbund? Und was haben Sie mit dem Präsidenten gemacht? Haben Sie ihn etwa auch auf dem Gewissen?«

Raves Hand hatte sich um den Griff seiner Aktentasche gekrampft, so dass seine Knöchel ganz weiß wurden. »Bormann?«, stieß er hervor. »Wovon reden Sie da?«

Drillson schnaubte verächtlich. »Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte er zu Powder. »Sie sehen Gespenster.«

»Ach, wirklich?«, fragte Powder. »Das sind aber seltsame Gespenster, die sich in den Archiven der CIA und des Amtes für Strategischen Einfluss herumtreiben und dort ganze Aktenschränke mit Namenslisten hinterlassen.«

Nun stand Drillson ebenfalls auf, beugte sich vor und stützte sich mit den Händen auf dem Schreibtisch ab. »Sie sind ja verrückt«, sagte er. »Völlig verrückt. Wenn Sie das der Öffentlichkeit auftischen, landen Sie in einer Irrenanstalt. Und bilden Sie sich bloß nicht ein, dass Sie Beweise haben. Unser Arm reicht weiter, als Sie denken. Nach Langley allemal.« Er betrachtete Powder von oben bis unten. »Glauben Sie etwa, der Totenkopfbund wäre so mächtig und einflussreich geworden, wenn wir uns von Gutmenschen wie Ihnen hätten aufhalten lassen? Wir werden Sie zerquetschen wie eine Maus!«

»Glauben Sie?«, fragte Powder. »Seien Sie bloß nicht zu überheblich.« Er musterte seinerseits den Verteidigungsminister und spürte, wie eine unglaubliche Ruhe von ihm Besitz ergriff. »Sie«, sagte er, »Sie haben das amerikanische Volk betrogen. Sie haben die großartigen Ideen, auf denen unser Land aufgebaut ist, und unsere Verfassung in den Schmutz gezogen. Sie haben uns mit Lügen und Terror, den Sie selbst zu verantworten haben, in zwei Kriege getrieben. Sie planen, noch weitere Kriege anzuzetteln. Und Sie und Ihre Freunde vom Totenkopfbund wollen aus den Vereinigten Staaten eine faschistische Diktatur machen. Aber damit ist jetzt Schluss. Wenn Sie sich einbilden, ungehindert nach der Macht greifen zu können, dann haben Sie sich schwer getäuscht. Ich werde Ihnen entgegentreten. Amerika wird die Wahrheit erfahren, ob es Ihnen passt oder nicht.«

Drillsons fassungsloser Gesichtsausdruck bestärkte ihn. Rave stand fast an der Wand und starrte Powder mit aufgerissenen Augen an. »Bis bald«, sagte Powder lächelnd. »Bis sehr bald.« Dann ließ er die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Zügig lief er zum Ausgang und nahm auf der Treppe gleich zwei Stufen auf einmal. Er würde noch am Nachmittag eine Pressekonferenz einberufen. Am besten sofort. CNN, die New York Times, die Washington Post, das Wall Street Journal, alle würde er einladen. Er hatte genug Material, um die Medien zu überzeugen, selbst wenn Drillson alle anderen Beweise verschwinden ließe. Ganz zu schweigen von dem Gespräch, das er gerade heimlich aufgezeichnet hatte und das praktisch ein Geständnis war.

Das war der letzte Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, als zwei Männer mit Kapuzen über dem Kopf vor ihm auftauchten. Einen Sekundenbruchteil später wurde er von einem betäubenden Schmerz gelähmt, der sich von seinem Hinterkopf über den ganzen Körper ausbreitete. Dann wurde Powder schwarz vor Augen. Ohnmächtig brach er auf dem Flur des Pentagon zusammen. »ZaPhoD«, flüsterte er. Dann nichts mehr.

Danny Patrick Rose

Danny Patrick Rose schreibt unter anderem Namen für die US-Fernsehshows Real Time und die Daily Show. Er begann als Stand-up-Comedian in seiner Heimatstadt Salt Lake City, studierte Civic Disobedience am City College in New York und arbeitete dann als Coach für das Baseballteam Boston Red Sox, Pizzalieferant für Tupac Shakur und Faktenchecker beim Council of Foreign Relations. Danach eröffnete er eine Stripbar in New Orleans. Als ihn das FBI als Person of Interest suchte, tauchte er in New Mexico unter, wo er bewusstseinserweiternde Kekse mit Kakteen kreuzte. Nach einem Burnout reiste er nach Indien, die Mongolei und Liechtenstein und verbrachte ein Jahr in London als Liebhaber der Duchess of York. Zurück in den USA, konzipierte er Sitcoms unter dem Pseudonym Tucker Carlson. Heute lebt der Autor des Politfachblatts The Onion und Hobbyveganer im Brooklyner Stadtteil Crown Heights mit seiner dreibeinigen Katze Petunia und zwei Piranhas. Die Verschwörung ist sein erster Roman. Er beruht auf einer wahren Geschichte.
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