Die Verschwörung, Folge 22 — Paperclip

Washington, FBI
Bild: privat

Außenminister Tom Powder geht zu einer Lagebesprechung, bei der auch Albert Rave ist, und der Präsident. Der neue Sicherheitsberater wird vorgestellt, Benito Giovanni. Powder macht einen überraschenden, semi-legalen Fund, von dem er hofft, dass der ihn weiterbringt. Rave und Drillson beobachten im Fernsehen, wie Harry Burton den neuen Thronfolger des saudischen Herrscherhauses vorstellt. Sie erkennen, dass der Kronprinz nicht der Mann ist, der er zu sein scheint. Powder schleicht sich in das Archiv der CIA ein und kommt dem Rätsel um den Präsidenten näher.

 

Ein eisiger Hauch wehte Tom Powder entgegen, so als sei der Antichrist in den Raum getreten. Der Mann mit dem schütteren dunklen Haar und dem seltsam verbissenen Grinsen, der rechts neben dem Präsidenten saß, strahlte die Warmherzigkeit eines toten Frettchens aus. Der Mann war Benito Giovanni, der neue Sicherheitsbeauftragte der US-Regierung.

Links neben dem Präsidenten saß sein Kommunikationsdirektor Albert Rave. Auch Powders ewiger Widersacher Dewey Drillson war an diesem sonnigen Septembermorgen zur Lagebesprechung in den Besprechungssaal des Weißen Hauses geeilt. Orinoko Oil hatte sich auf dem Platz von Harold H. Burton niedergelassen. Der Vizepräsident war noch immer in Saudi-Arabien. Powder fragte sich, was er dort eigentlich so lange tat. Falls er bei den Saudis um Hilfe im Kampf gegen die Aufständischen im Irak warb, war er bisher nicht sonderlich erfolgreich gewesen. Der CIA-Direktor ganz links außen starrte, wie immer, diesig vor sich hin. Als Letzter huschte Doktor Henry Wolfstetter durch die Tür. Giovanni widmete Drillsons Vize einen scharfen Blick. »Tut mir leid«, nuschelte Wolfstetter. »Ich bin in der Defiant Foundation aufgehalten worden. Ich muss Lucius vertreten, der noch immer in Moskau ist.«

Der Präsident lächelte zerstreut. Täuschte sich Powder oder wurde der Präsident langsam fett? Zumindest um die Hüften schien er zugelegt zu haben. Und sah sein Gesicht nicht auch ziemlich aufgedunsen aus? Und Drillson sah auch aus, als habe er eine Panzerfaust gefrühstückt. Aber das mochte andere Gründe haben als Sorge um den Zustand des Präsidenten. Powder hatte heute früh den neuen Lagebericht aus dem Irak gelesen – den seines eigenen State Departments und nicht den geschönten Bericht der CIA oder des Pentagons. Demnach ging es dort drüben drunter und drüber. Wie überall, wo Drillson versuchte, Ordnung zu schaffen.

»Liebe Freunde«, sagte der Präsident. Freunde? Was war denn in den gefahren? »Liebe Freunde, ich bin mir ganz sicher, dass mein guter Freund Benito unseren lieben CIA-Direktor, dem ich bei dieser Gelegenheit ganz herzlich für seine Verdienste danken möchte, würdig ersetzen kann.« Der Präsident machte eine kleine Pause. »Solange Lucius in Moskau ist, wird Benito auch für ihn einspringen. Und nebenbei wird er die Aufgaben von Harry übernehmen.«

Während der CIA-Direktor schlagartig aufgewacht war und den Präsidenten entsetzt anstarrte, lehnte Rave sich zurück, Giovanni fest im Blick. Sein linker Arm ruhte dabei beiläufig auf seiner abgewetzten  braunen Aktentasche, die unter dem Gewicht kurz aufklappte. Powder spähte hinein. Und da sah er ihn. In der Tasche lag der gleiche Manschettenknopf, den er nach seinem Stelldichein mit der First Lady gefunden hatte. Er war silbern mit einer Einlage aus dunkelblauem Lapislazuli.

Powder musste sich auf die Lippen beißen, um nicht laut zu werden. »… und mein lieber Freund Benito wird auch dafür sorgen, dass die Grenzen zu Kanada künftig sicher sind«, sagte der Präsident. »Natürlich ist es dafür unabdingbar, dass …« Es war also Rave gewesen, der ihm nachspioniert hatte, dachte Powder. Ob er den Kommunikationsdirektor mit dem Knopf, den er neben der Schlafzimmertür des Präsidenten gefunden hatte, konfrontieren sollte? Das wäre unklug. Rave würde außerdem behaupten, dass das kein Beweis sei. Immerhin sei er ja oft genug beim Präsidenten.

»Und jetzt, liebe Freunde, mein lieber Benito, werde ich mich ein wenig ausruhen«, sagte der Präsident und lächelte. »Sie und Dewey haben ja alles im Griff.«

Als alle aufstanden, wusste Powder, dass er handeln musste. Er trat auf den Präsidenten zu, griff ihn an den Schultern und drehte ihn so zu sich um, dass Rave sie beide nicht mehr hören konnte. »Mister President, ein kurzes Wort nur«, sagte er. Sofort sprang der Kommunikationsdirektor auf und hechtete zu ihnen herüber. Seine Aktentasche ließ er auf dem Konferenztisch liegen.

Powder lächelte und wandte sich Rave zu. »Gut, dass Sie kommen, Albert«, sagte er. »Wir waren gerade dabei, den gestrigen Bombenanschlag im Irak zu diskutieren. Sagen Sie, haben Sie zufällig den neuesten Bericht des Amts für Strategischen Einfluss dabei? Ich würde den Präsidenten gerne auf etwas Wichtiges hinweisen.«

Der Präsident machte nicht den Eindruck, als ob ihn das Gespräch auch nur ansatzweise interessierte, aber er rührte sich zumindest nicht vom Fleck. »Einen Augenblick«, sagte Rave. Powder konnte seine Verärgerung förmlich spüren. »Ich hole das Ding.«

Selbst wenn der Bericht griffbereit auf Raves Schreibtisch lag, würde er zwölf bis fünfzehn Minuten brauchen, um zu seinem Büro und zurück zu sprinten. Zeit genug. Kaum war Rave aus der Tür verschwunden, griff Powder mit einer raschen Bewegung nach dessen brauner Aktentasche, die noch auf dem Konferenztisch lag, und nickte dem Präsidenten zu. »Ich komme gleich wieder«, sagte er.

Draußen, vor der Tür des Besprechungssaales, sah er sich kurz um. Niemand hatte gesehen, wie er Raves Mappe an sich genommen hatte. Powder öffnete die Tür einer nahen Herrentoilette und zog sich in eine Kabine zurück. Ein Blick auf seine Armbanduhr. Noch ungefähr elf Minuten.

Auf dem Klodeckel sitzend, öffnete er die Aktentasche. Sie war vollgestopft mit in Plastikheftern und Pappumschlägen gebündelten Papieren. »Amt für Strategischen Einfluss« stand auf dem ersten Hefter, den er herauszog. Powder blätterte ihn rasch mit dem Daumen durch. Sein Blick blieb an einer Seite hängen, die mit »Gilligan, Jason« betitelt war. »USAMRIID« stand auf dem nächsten Schnellhefter. Dann gab es noch eine Liste mit den Redakteuren und Reportern von FUC samt deren Telefonnummern. Auch nicht das, was Powder suchte.

Vier Minuten später fand er es. Einen braunen Umschlag, in dem ein Dutzend Fotos steckten. Noch während er das erste Foto herausholte, merkte er, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Auf dem Foto war er selbst zu sehen. Mit Linda. Sie waren beide nackt. Linda hielt die Gitter am Kopfteil des rosaseidenen Bettes mit beiden Händen umklammert und hatte die Beine gespreizt. Er kniete vor ihr und seine Hände griffen nach ihren Brüsten. Wo war die Kamera bloß gewesen? Über dem Bett?

Powder zitterte. Fast gegen seinen Willen holte er die übrigen Fotos aus dem Umschlag. Auf allen trieb er es mehr oder weniger heftig mit Linda. Ihm war sofort klar, was das bedeutete. Damit konnte Rave ihn erpressen.

Er schrak zusammen. Nur noch wenige Minuten. Wie im Fieber fing er wieder an, in der Aktentasche zu wühlen. War da noch irgendetwas, das ihm weiterhelfen konnte? Zwei Kugelschreiber, ein Paket Kaugummis, ein Autoschlüssel. Ein elektronischer Organizer. Ein Kamm. Wozu bloß brauchte Rave einen Kamm? Ganz unten, aus der inneren Seitentasche, fischte er schließlich einen Schlüssel heraus. Einen Sicherheitsschlüssel aus Stahl, der ziemlich abgegriffen aussah. An dem Schlüssel hing ein kleines weißes Plastikschild. Darauf stand: »Langley, ASE«.

Langley war der Vorort in Virginia, wo die CIA residierte.

Powder wusste nicht warum, aber er steckte den Schlüssel in seine Hosentasche. Dann schob er den Umschlag mit den Fotos wieder in die Aktentasche und verließ die Herrentoilette. Als er wieder im Besprechungssaal ankam, waren die meisten schon gegangen. Nur der Präsident stand noch mit Wolfstetter, der spuckend auf ihn einredete, an der Tür. Rave war noch nicht zurückgekommen. Als Powder die Mappe auf den Tisch legte, hörte er ein leises Schnaufen. Er fuhr hoch. Es war der CIA-Direktor, der ganz hinten am Ende des Tisches saß und aussah, als brauche er sofort einen Drink.

Der Außenminister überlegte. Vielleicht war das seine einzige Chance. Er trat an den CIA-Direktor heran, beugte sich zu ihm vor, so dass ihn sonst niemand hören konnte, und hielt ihm den Schlüssel mit dem Plastikschild unter die Nase. »Sagen Sie, William«, fragte er, »wissen Sie zufällig, wofür dieser Schlüssel ist?«

Der CIA-Direktor – der ehemalige CIA-Direktor, um präzise zu sein – warf erst einen raschen, abschätzigen Blick auf den Präsidenten und Wolfstetter an der Tür, dann auf den Schlüssel und dann auf Powder. »Das ist der Schlüssel zu einem unserer Archivkeller in Langley«, sagte er. Er machte eine Kunstpause. »Zum Keller des Amtes für Strategischen Einfluss. Fünftes Untergeschoss, Galerie drei. Aber da kommen Sie nicht rein. Das ist streng geheim.«

Dewey Drillson sah unwillig auf, als die Tür zu seinem Büro aufflog. Im Türrahmen stand ein schwitzender, zitternder Albert Rave, der offenbar gerade die Treppe hochgerannt war. »Schnell«, sagte Rave und schnappte dabei nach Luft. »Schnell … schnell … den Fernseher …« Und als Drillson ihn verständnislos anstarrte: »CNN, FUC, egal, irgendetwas. Schalten Sie ein!«

Die Nachricht, die auf allen Kanälen lief, war tatsächlich bemerkenswert. Harold H. Burton stand an einem Pult aus Tropenholz vor einer Unzahl von Fernsehkameras und gab offenbar gerade eine Pressekonferenz. Um ihn herum hatten sich ein paar Dutzend Männer aufgereiht, größtenteils Araber. Einer der Araber stand direkt neben dem Vizepräsidenten. Er war höchstens Mitte fünfzig, mittelgroß, stämmig, trug einen weißen Kaftan und dazu den traditionellen arabischen Kopfputz. Er hatte dunkle, ein wenig melancholische Augen und einen sauber gestutzten, dunklen Vollbart. Am unteren Bildrand war zu lesen: »U. S. Vizepräsident Harold Burton stellt heute in Riad den neuen Herrscher Saudi-Arabiens vor.«

»… Khalid Ibn Sultan, der Thronfolger der saudi-arabischen Herrscherdynastie«, sagte die Sprecherin von CNN gerade, als Rave den Ton lauter stellte. »Khalid Ibn Sultan ist der älteste Sohn von König Fahd, der acht Jahre lang an den Folgen eines Schlaganfalls gelitten hat. König Fahd ist gestern Abend seiner schweren Krankheit erlegen.« Die Sprecherin machte eine Pause, während der Araber neben Burton – offensichtlich dieser Khalid Ibn Sultan – die Hand hob und vortrat, um etwas zu sagen. »Khalid Ibn Sultan gilt als Garant für demokratische Reformen«, fuhr die Sprecherin vor. »Der neue Monarch von Saudi-Arabien wird, wie Vizepräsident Harold H. Burton es bereits ankündigte, das Königreich in eine moderne Zukunft führen. Zunächst wird Khalid Ibn Sultan Frauen die Erlaubnis erteilen, ein Fahrzeug zu führen. Allerdings nur, wenn sie einen blickdichten Schleier …«

»Wer zum Teufel ist Khalid Ibn Sultan?«, fragte Rave entgeistert. »Wussten Sie, dass König Fahd einen Sohn hat, der die Thronfolge übernehmen sollte? Und gleich so schnell? Ich dachte immer, dass Kronprinz Abdullah …«

»Fahd hat ungefähr siebzig Söhne von achtzehn verschiedenen Frauen«, knurrte Drillson. »Aber dieser Khalid Ibn Sultan ist keiner davon.«

Rave sah erst Drillson unsicher an und dann wieder den Fernseher. »Der 75-jährige Kronprinz Abdullah, der für seinen schwerkranken Bruder bisher die Regierungsgeschäfte geführt hat, ist mit sofortiger Wirkung zurückgetreten«, sagte die Sprecherin, während Harry Burton immer noch mit schiefem Mund in die Kamera lächelte. Eine seiner schweren, gepflegten Hände lag auf der linken Schulter von Khalid Ibn Sultan. »Er hat sich in seinen Altersruhesitz am Genfer See zurückgezogen. Wir schalten nun gleich live nach Riad ins CNN-Studio, wo unser Reporter …«

»Was soll das heißen, er ist keiner von Fahds Söhnen?«, fragte Rave. »Wer ist der denn dann?«

»Wir, die Vereinigten Staaten von Amerika, freuen uns zusammen mit dem saudischen Volk, dass sich Saudi-Arabien, ein langjähriger und zuverlässiger Verbündeter der USA, nun endlich dem frischen Wind der Demokratie geöffnet hat«, sagte Burton in das Mikrofon des CNN-Reporters. »Damit wird ein heilsamer Prozess fortgesetzt, den wir mit der Befreiung des Irak eingeleitet haben, und der …«

Drillson starrte noch immer den Fernseher an. »Das darf nicht wahr sein«, sagte er. Dann wandte er sich an Rave. »Erkennen Sie den wirklich nicht?« fragte er und deutete mit dem Kinn in Richtung Bildschirm, wo nun wieder Khalid Ibn Sultan auftauchte. Was er sagte, war nicht zu hören. Er gab der BBC gerade ein Interview.

»Nein«, sagte Rave und schüttelte den Kopf. Dann griff er nach der Fernbedienung und schaltete um auf FUC. Vielleicht wussten die mehr.

Auf FUC waren die gleichen Bilder zu sehen. »Die Demokratisierung des Mittleren Ostens schreitet mit dieser friedlichen Machtübertragung unaufhaltsam voran«, sagte der Kommentator von FUC aus dem Off. »Der Frühling der Freiheit in Saudi-Arabien manifestiert sich nun in einem Symbol, das viele junge, gebildete Araber tragen, die goldfarbene Öldistel. Es ist daher nicht übertrieben, von einer goldenen Revolution zu sprechen.« Damit schwenkte die Kamera wieder auf Khalid Ibn Sultan, der plötzlich ebenfalls eine goldene Distel im Knopfloch trug. »Meine geliebten arabischen Brüder …«, fing er seine Rede an.

Drillson schnaubte verächtlich. »Das da«, sagte er, »ist Saddam Hussein.«

»Was?!«, entfuhr es Rave. Er zischte dabei, als habe ihn eine Wespe in den Hintern gestochen. »Das ist Saddam?!«

Drillson nickte grimmig. »Gucken Sie mal genauer hin«, sagte er. »Die Augen – er hat sich die Lider straffen, die Brauen zupfen und die Tränensäcke entfernen lassen, aber das sind seine Augen. Der Vollbart verändert ihn natürlich ebenfalls. Und sein Gesicht wirkt schmaler, weil seine hinteren Backenzähne entfernt wurden. Aber ich erkenne ihn auf fünftausend Meilen.«

»Saddam Hussein?«, wiederholte Rave fassungslos. »Ich dachte, der wäre tot? Ich habe doch selbst das Video gesehen, auf dem …«

»Ich auch«, unterbrach ihn Drillson ungnädig. Er sprang auf, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und fing an, auf und ab zu laufen. »Was wir auf dem Video gesehen haben, war Saddam, der reglos auf einer Couch liegt. Er könnte auch bewusstlos gewesen sein. Oder sich einfach totgestellt haben.«

Rave sah ihn unsicher an. »Das Video hat doch Burton aufnehmen lassen?«, frage er. »Oder?«

Drillson blieb abrupt stehen und drehte sich zu Rave um. »Ich bin mir nicht ganz sicher«, sagte er. »Burton kannte das Video, aber vorgeführt hat es Wolfstetter. Vielleicht stecken die beiden unter einer Decke.« Er überlegte ein paar Sekunden. »Aber Burton muss wissen, wer da in Riad neben ihm steht. Kein Zweifel. Er hat uns reingelegt.« Er schnaubte. »Ha! Goldene Revolution!«

Der FUC-Kommentator sprach noch immer aus dem Off. »Khalid Ibn Sultan, der neue Monarch des saudischen Königreichs, sowie Vizepräsident Harold H. Burton haben bereits ein Abkommen unterzeichnet, das Oilocal, dem amerikanischen Ölgiganten, das Recht einräumt, alle saudischen Energiereserven …«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Rave. Er klang ungewohnt kleinlaut.

»Wir müssen erst einmal gute Miene zum bösen Spiel machen«, knurrte Drillson. »Wir können ja wohl schlecht eine Presseerklärung herausgeben, in der es heißt, dass wir den Kopf von Khalid Ibn Sultan fordern, weil er in Wirklichkeit Saddam Hussein ist. Aber ich will sofort wissen, was da unten los ist. Sofort! Vor allem will ich wissen, wo Kronprinz Abdullah steckt. Und ich will Burton an der Strippe haben, so schnell es irgend geht.«

Rave nickte. »Soll ich Giovanni herzitieren?« Die CIA müsste doch wissen, was …« Es klopfte. Ohne abzuwarten, platzte Orinoko Oil ins Zimmer.

»Haben Sie das gesehen?«, fragte sie vollkommen außer Atem. »Wussten Sie von dem anstehenden Machtwechsel? Und wer ist Khalid Ibn Sultan?«

»Gewöhnen Sie sich nicht allzu sehr an den Namen«, knurrte Drillson. Dann warf er Rave einen ungeduldigen Blick zu. »Wollten Sie nicht Giovanni kontaktieren?«, fragte er. »Schon vor zwei Minuten?«

Rave griff in seine Jackentasche und sah entsetzt auf. »Meine Aktentasche«, sagte er. »Ich habe meine Aktentasche im Weißen Haus vergessen. Mit meinem Organizer und meinem Telefon. Da ist …«

»Dann holen Sie die verdammte Mappe«, sagte Drillson scharf. Im Fernsehen – Orinoko hatte wieder auf CNN umgeschaltet – erschien nun der irakische Ministerpräsident. Der von der U. S. Army eingesetzte Interims-Ministerpräsident.

»Wir freuen uns«, sagte er, »dass unsere saudischen Brüder ebenfalls den Wind der Freiheit spüren. Auch wir haben die goldene Distel zu unserem Symbol …«

Drillson drückte einen Knopf seiner Telefonsprechanlage. »Rufen Sie Doktor Wolfstetter an«, sagte er zu seiner Sekretärin. »Er soll zu mir hochkommen. Und die Stabschefs der Army, der Navy und der Luftwaffe ebenfalls. Und zwar sofort.«

Rave, der schon fast aus der Tür war, drehte sich noch einmal um. »Übrigens«, sagte er. »Was macht eigentlich Lucius Prince? Seit sein iranischer Freund, dieser Abdul, verhaftet worden ist, habe ich von ihm nichts mehr gehört. Glauben Sie, dass er mit Burton unter einer Decke steckt?«

Drillson zögerte. »Keine Ahnung«, sagte er. »Ich hoffe, nicht.«

Es hatte Powder einiges an Mühe gekostet, in das Archiv der Central Intelligence Agency in Langley hineinzukommen. Erst hatte er sich überlegt, einfach kraft seiner Autorität als Außenminister hineinzumarschieren, aber er hatte festgestellt, dass er dazu eine Erlaubnis des Weißen Hauses hätte beantragen müssen. Und der CIA. Und des Office for Homeland Security. Und des Amtes für Strategischen Einfluss. Nach längerem Nachdenken war ihm dann eingefallen, dass der ehemalige Botschafter der USA im Jemen vor wenigen Monaten das State Department verlassen hatte und nun stellvertretender Leiter der Immobilienabteilung der CIA war. Es hatte einiger bittender Telefonanrufe bedurft, aber schließlich hatte der Mann eingewilligt, ihm zu helfen. Vermutlich bloß, um Drillson zu ärgern, glaubte Powder. Er hatte ihm einen Deklassifizierungsschein besorgt, der für zwei Stunden gültig und mit der ausdrücklichen Anweisung versehen war, nichts, aber auch gar nichts aus dem Archiv mitzunehmen. Aber immerhin.

Nun stand Powder im Keller des weitläufigen Gebäudekomplexes und betrachtete die unendlichen Reihen stählerner Regale. Sie alle waren mit Kartons und Papierbündeln vollgestopft, die grau und verstaubt aussahen. In diesem Teil des Archives bewahrte die CIA die Akten der »Operation Paperclip« auf. Das war jene infame Geheimdienstoperation, im Zuge derer nach dem Zweiten Weltkrieg hunderte von Alt-Nazis in die USA geholt worden waren, um für die NASA, die CIA und diverse Waffenforschungsprogramme zu arbeiten.

Powder musterte die Rücken der Kartons. »Edgewood« stand auf einem davon. In Edgewood hatte die U. S. Army Experimente mit chemischen und biologischen Giften gemacht, für die GIs als Versuchskaninchen benutzt wurden. Der Außenminister ging an zwei Dutzend Regalen vorbei, die auf eine graue Kellerwand zuliefen. In der Mitte, zwischen zwei Stahlschränken, gab es eine Tür. Über der Tür hing ein schmales weißes Schild, auf dem »Galerie III« stand. Powder griff nach dem Schlüssel, den er aus Raves Aktentasche geholt hatte. Er passte.

Die Tür schwang knarrend auf. Dahinter – Powders zittrige Finger fanden erst nach ein paar Sekunden den Lichtschalter – das gleiche Bild: Regale bis an die Decke, vollgestellt mit Kartons und Ordnern. An der Seite des ersten Regals war ein graues Schild befestigt. »Amt für Strategischen Einfluss« stand darauf.

Powder wusste ungefähr, wofür dieses Amt zuständig war, aber er war erstaunt, wie viele Dokumente sich bereits angesammelt hatten. War das Amt nicht erst vor ein oder zwei Jahren gegründet worden?

Er überflog die Beschriftungen der Ordner. »Massenvernichtungswaffen« stand auf den Kartons im vordersten Regal. An den Kartons im Regal daneben klebte ein Zettel, der mit »Biowaffen/Anthrax« betitelt war. Ob es das war, was er suchte? Seine Augen wanderten zu einer Reihe von Ordnern, auf denen »Pakistan« stand. Gerade, als er einen davon aus dem Regal ziehen wollte, fiel sein Blick auf eine Schachtel im Regal dahinter. Sie war ziemlich alt, ziemlich schäbig und hatte keine Aufschrift. Stattdessen klebte ein kleiner weißer, stilisierter Totenkopf darauf. Wie von einer äußeren Macht getrieben, griff Powder nach der Schachtel mit dem Totenkopf.

Ein paar Sekunden hielt er sie zögernd in beiden Händen und stellte sie dann auf einem wackeligen kleinen Holztisch ab, der zwischen den Regalen stand. Er öffnete sie. Die Papiere, die darin lagen, waren alt. Sehr alt. Ganz oben lag eine vergilbte Kladde, in einer altertümlichen Handschrift beschrieben, die vermutlich seit der Zeit von Abraham Lincoln nicht mehr benutzt wurde. »Der Geheimbund des Totenkopfes« stand auf dem Einband der Kladde. Darunter prangte wieder ein stilisierter Schädel mit zwei gekreuzten Knochen.

Powder schüttelte ungläubig den Kopf. War er in einem alten Spionagethriller gelandet? Dann blätterte er die Kladde auf. Es dauerte ein wenig, bis er die Schrift entziffern konnte. »Wir, die Bruderschaft des Totenkopfes, geloben, einander auf ewig verbunden und verpflichtet zu sein. Wir geloben, gemeinsam für unsere Interessen einzustehen, sowohl in der Kolonie Amerika als auch im Mutterland und überall. Und wir geloben, unsere Bruderschaft niemandem zu offenbaren.« Darunter standen drei Dutzend Namen: Kaufleute, Immobilienmagnaten, Stahlfabrikanten, Banker, Munitionsproduzenten, Eisenbahnbarone. Alle hatten in der Zeit um den amerikanischen Bürgerkrieg gelebt. Einer davon war der Urgroßvater des Präsidenten.

Powder legte die Kladde auf das Tischchen. Auch die übrigen Papiere im Karton sahen alt und vergilbt aus. Er blätterte sie eilig durch. Kreditverträge, Briefe, geschäftliche Unterlagen. Dann ein Bündel Telegramme. »Mein lieber Duce – STOP – komme übermorgen in Rom an – STOP – Treffen in New York erfolgreich – STOP – Kredit praktisch gesichert – STOP. Ihr ergebener …« Der Name des Bankers, der das Telegramm unterzeichnet hatte, war identisch mit einem der Männer, die den Totenkopfbund gegründet hatten. Vermutlich war er dessen Sohn. Oder vielleicht sein Enkel.

Dann folgte eine Mappe, auf deren Titelblatt »Kredit« stand. Auf der ersten Seite fand sich eine Liste mit Namen. Wieder der Totenkopfbund. Bloß eine neue Liste. Dann folgten fünf Seiten mit langen Zahlenkolonnen. Dahinter war ein getippter Bericht mit Datum 31. Januar 1930 eingeheftet. Powder überflog ihn. »… sollten wir ernsthaft prüfen, ob eine Finanzierung dieser zukunftsweisenden deutschen Partei, der NSDAP …«

Es schauderte ihn. Amerikanische Banker hatten den Nazis Geld gegeben? Dies und die Telegramme an Mussolini hätten Powder eigentlich auf den nächsten Fund vorbereiten sollen, doch es traf ihn trotzdem wie ein Schlag in die Magengrube. Auf der Kladde, die ganz unten im Karton verborgen war, stand: »Martin Bormann«. Darunter, in etwas kleinerer Schrift: »Parteikanzlei, 1945, Berlin NW 8«.

Bormann! Hitlers geheimnisvoller Stellvertreter, der seit 1945 spurlos verschwunden war! Powder spürte, wie ihn fröstelte. Er blätterte um. Auf der nächsten Seite war ein zerknittertes, verwaschenes schwarz-weißes Foto eingeklebt, das offenbar Bormann zeigte. Nur, dass er keine deutsche Uniform trug, sondern einen grauen Anzug, der aussah, als sei er in den vierziger Jahren fabriziert worden. Und zwar in den USA. Unter dem Bild stand in dünner Druckschrift: Office of Strategic Services.

Bormann soll Mitarbeiter des OSS gewesen sein? Powder wusste, dass die CIA zahlreiche hochrangige Nazis angeheuert hatte, aber das war nach dem Krieg gewesen. Das OSS hatte während des Krieges operiert. Powder sah sich das Foto genauer an. Bildete er sich das ein oder ähnelten Bormanns Züge denen von Drillson? Nein, das war vollkommen unmöglich. Falls Bormann überhaupt noch lebte – was sowieso schon extrem unwahrscheinlich war – musste er über hundert Jahre alt sein.

Mehr war nicht in der Schachtel. Er sah auf die Uhr. Er hatte noch eine knappe Stunde übrig. Er wusste nicht, was passierte, wenn er die Zeit überzog, aber er wollte keinen Skandal riskieren. Im gleichen Regal stand noch ein weiterer Karton, der neuer aussah. Er nahm ihn heraus.

Ganz oben lag eine Akte, die in modernerer Schrift getippt war. »Zarathustra-Phobos« stand darauf. Er klappte die Akte auf. »Das Zarathustra-Phobos-Development-Projekt (ZaPhoD)«, stand dort, »wurde 1940 bis 1945 von deutschen Wissenschaftlern entwickelt. Das Ziel war, einen Übermenschen mit besonderen Kräften und überdurchschnittlicher Intelligenz zu schaffen, der mittels Furcht und Schrecken die Herrschaft ergreift. Damit sollte …«

Übermensch? Powder spürte, wie ihm schwindelig wurde, aber er las weiter. »Die ersten Versuchspersonen von ›Zarathustra-Phobos‹ waren SS-Offiziere im VI-Raketenlabor von Peenemünde, die nach 1945 ihr Knowhow den Vereinigten Staaten zur Verfügung stellten.« Es folgte eine Beschreibung der medizinischen und technischen Einzelheiten voller Ausdrücke wie »Klonkontrolle« und »Replikation«. Und dann kam der entscheidende Satz. »Die Operation wurde in den USA unter der Leitung von ◼◼◼◼◼◼◼◼ implementiert. »◼◼◼◼◼◼◼◼ hat auch heute noch die Oberaufsicht inne.«

Heute? Hieß das, dieses Projekt gab es noch immer? Powder hielt die Seite mit der geschwärzten Stelle gegen das Neonlicht, aber der Name war trotzdem nicht zu erkennen. »◼◼◼◼◼◼◼◼ steht seit 1950 dem Totenkopfbund vor, der sich um die Finanzierung und den anschließenden Transfer von ZaPhoD aus Deutschland verdient gemacht hat.« Dann folgte wieder eine Liste mit Namen. Dies schien jedoch eine neue Liste zu sein. Zumindest war sie auf einem Computer verfasst worden. Hinter jedem Namen prangte ein winziger Totenkopf. Der erste Name lautete Albert Rave.

Eigentlich, dachte Powder, hätte er nicht überrascht sein sollen, aber trotzdem war er schockiert. Während er die Liste weiter durchblätterte, fühlte er sich, als füllten sich seine Adern mit Eiswasser. Es waren Dutzende von Namen. Drillson war darunter, ebenso Benito Giovanni, außerdem sein eigener Abteilungsleiter, dazu der stellvertretende Direktor der CIA, der Leiter des »Amtes für Strategischen Einfluss«, Joseph Brisbane und, als einzige Frau, Nancy Reagan.

Er blickte auf die Uhr und erschrak. Noch acht Minuten. Ihm dämmerte plötzlich, dass dieser ganze Raum streng geheim war – womöglich war Rave der Einzige, der den Schlüssel hatte. Wonach sollte er noch suchen? Hastig sah er sich um. Tatsächlich stand in dem Regal noch ein Ordner mit der Aufschrift »ZaPhoD«. Er zog ihn heraus.

Der Ordner enthielt zwei Akten. Auf einer davon klebte ein Foto, das den Bruder des Präsidenten zeigte. Neben dem Foto prangten drei rote Kreuze. »Negativ« stand darunter. Er blätterte die zweite Akte auf und sah das Foto eines Mannes, der ganz genau so aussah wie der Präsident. Darunter war »Klon V« zu lesen.

»Das Projekt, mittels der Zarathustra-Phobos-Technologie den perfekten Übermenschen zu schaffen, hat leider einige herbe Rückschläge erlitten«, hieß es in der Erläuterung. »Klon V, der derzeit im Einsatz ist, zeigt bereits degenerative Erscheinungen, trotz der deutlich verbesserten Feedback-Schleife im Nacken. Klon I ist bei einem Autounfall unter Alkoholeinfluss in Massachusetts umgekommen. Klon II wurde während seiner Dienstzeit in der Nationalgarde von Alabama bei einem Flugzeugabsturz getötet. Klon III wurde von einem eifersüchtigen Ehemann in Texas erschossen. Klon IV ist in Washington der Überdosis eines Aufputschmittels zum Opfer gefallen. Von weiteren Experimenten mit diesem Klon-Typ wird aus wissenschaftlicher Sicht dringend abgeraten.«

Der Präsident ein Klon? Powder konnte es kaum glauben. Andererseits würde das erklären, warum sich der Präsident seit ein paar Monaten so anders verhielt.

Er sah auf die Uhr. Noch zwei Minuten! Er hatte zwar versprochen, nichts mitzunehmen, aber sie würden ihn ja wohl nicht am Ausgang filzen. Oder? Er griff nach der Akte über das Klonprogramm und der neuen Liste mit den Mitgliedern des Totenkopfbundes, schob beides in seinen Hosenbund und verdeckte es mit Hemd und Jacke. Er zögerte kurz und steckte schließlich auch die Akte Bormann ein. Hastig packte er die Kartons zusammen und stellte sie ins Regal.

Genau in dem Moment, als er das Licht ausschalten wollte, fiel sein Blick auf einen Karton, den er bisher übersehen hatte. Doch er hörte bereits Schritte. Sollte er den Karton auch noch einstecken? Aber wohin damit? Lieber nichts riskieren. Schnell zog er die Tür zu, schloss sie ab und eilte zum Aufzug.

Auf dem Karton, den er zurückgelassen hatte, stand: »World Trade Center«.

Danny Patrick Rose

Danny Patrick Rose schreibt unter anderem Namen für die US-Fernsehshows Real Time und die Daily Show. Er begann als Stand-up-Comedian in seiner Heimatstadt Salt Lake City, studierte Civic Disobedience am City College in New York und arbeitete dann als Coach für das Baseballteam Boston Red Sox, Pizzalieferant für Tupac Shakur und Faktenchecker beim Council of Foreign Relations. Danach eröffnete er eine Stripbar in New Orleans. Als ihn das FBI als Person of Interest suchte, tauchte er in New Mexico unter, wo er bewusstseinserweiternde Kekse mit Kakteen kreuzte. Nach einem Burnout reiste er nach Indien, die Mongolei und Liechtenstein und verbrachte ein Jahr in London als Liebhaber der Duchess of York. Zurück in den USA, konzipierte er Sitcoms unter dem Pseudonym Tucker Carlson. Heute lebt der Autor des Politfachblatts The Onion und Hobbyveganer im Brooklyner Stadtteil Crown Heights mit seiner dreibeinigen Katze Petunia und zwei Piranhas. Die Verschwörung ist sein erster Roman. Er beruht auf einer wahren Geschichte.
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