Die Verschwörung, Folge 19 — Super Soldiers

Trinity
Bild: privat

Dewey Frillson, Harry Burton und Henry Wolfstetter beobachten im Pentagon auf einem Video, wie ein arabisch aussehender Mann eine kosmetische Operation über sich ergehen lässt. Der Präsident und Albert Rave kommen dazu. Der Mann ist Saddam Hussein. Und etwas ist schiefgegangen. Tom Powder und Linda kommen sich im Schlafzimmer des abwesenden Präsidenten näher. Danach fragt Powder Linda aus, warum der Präsident sich so verändert hat. Sie erzählt ihm, dass Rave überall im Weißen Haus eine Art Metalldetektoren hat installieren lassen. Da hört Powder ein Geräusch… Auf Rat von WarriorKahless fliegt Manuel nach New York zu einer Versammlung von 9-11-Skeptikern. Er bekommt ein wichtiges Beweisstück von einem Mann, der sich als pakistanischer Agent ausgibt. Das soll, sagt der Agent, von dem in Karachi ermordeten Journalisten stammen. Noch in der Nacht ruft er Jason an.

 

Ein scharfer Schnitt mit dem Skalpell und die Augen des aufgedunsenen Endfünfzigers füllten sich mit Tränen. »Aua«, sagte er.

Der Schönheitschirurg im weißen Kittel zog die Augenbrauen hoch. »Wenn Sie stillhalten«, sagte er, »tut es auch nicht so weh.« Gleich hinter dem Chirurgen bot ein Panoramafenster den Blick auf die schönste Schweizer Bergwelt. Weiße Gipfel, blauer Himmel, dunkelgrüner Wald. Doch dafür hatte der Endfünfziger mit den schwarzen Haaren und dem Bartschatten ganz offensichtlich keine Augen. Er konnte die Berge auch gar nicht sehen. Er lag auf einer dunkelroten Ledercouch, während sich der Chirurg über ihn beugte. »Als Erstes«, sagte der Chirurg, »muss ich Ihre Tränensäcke wegoperieren. Danach kommen vier Backenzähne raus.«

»Aua«, sagte der Endfünfziger noch einmal. »Warum kriege ich keine Narkose?«

»Ich habe Ihnen doch schon drei Spritzen zur örtlichen Betäubung gegeben«, antwortete der Chirurg. »Das muss erst einmal reichen. Vollnarkose ist immer ein medizinisches Risiko. Was glauben Sie, was mir meine Auftraggeber erzählen, wenn Sie tot sind?«

Der Endfünfziger zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich ist denen das ganz recht«, sagte er. »Der Einzige, der mich bisher besucht hat, ist Wilbur.«

»Schscht«, zischte der Schönheitschirurg. »Keine Namen. Das will ich gar nicht wissen. Und jetzt machen Sie die Augen zu und entspannen Sie sich.«

»Was für ein großes Baby«, sagte Dewey Drillson, der knapp fünftausend Meilen entfernt im Pentagon ebenso ungehalten war wie der Schweizer Schönheitschirurg. Er gab Doktor Henry Wolfstetter einen Wink, das Video zu stoppen. »Dabei haben wir ihm doch extra einen Privatflug nach Winterthur spendiert. Kann mir noch mal jemand erklären, warum wir ihn nicht an Ort und Stelle haben erschießen lassen?«

Vizepräsident Harry Burton zog die Augenbrauen hoch. »Weil Sie persönlich den Befehl gegeben haben, ihn rauszuschaffen«, erinnerte er den Verteidigungsminister. »Und zwar, weil wir ihn noch brauchen. Wir müssen die Fernsehbilder von seiner Festnahme ausstrahlen lassen. Und später dann natürlich auch die Aufnahmen vom Kriegsverbrecher-Prozess. Vor allem aber brauchen wir ihn im Zusammenhang mit den Anschlägen auf das World Trade Center.«

»Wenn wir ihn so umarbeiten lassen, dass ihn am Ende keiner mehr erkennt, können wir ihn aber auch nicht mehr abfilmen lassen«, bemerkte Drillson.

»Das ist alles geregelt«, antwortete Burton. »Doktor Wolfstetter hat diese Wochen genutzt, um genügend Bilder für die nächsten paar Jahre anfertigen zu lassen. Und zur Not haben wir noch zwei von den Doubles. Vor allem aber brauchen wir ihn, um der Welt den Verantwortlichen für die Angriffe auf das World Trade Center präsentieren zu können. Ich habe einen genialen Plan ausgearbeitet, der …«

Wolfstetter, der heute selbst für seine Verhältnisse unglücklich aussah, räusperte sich vernehmlich. »Mit Ihrem Plan gibt es leider ein kleines Problem«, unterbrach er den Vizepräsidenten. »Wir haben …« Er schwieg, als es an der Tür des Konferenzraumes klopfte. Alle sahen sich an. Konnte das Prince sein? Oder gar Powder? Geistesgegenwärtig drückte Wolfstetter auf die Fernbedienung und der Bildschirm schaltete auf CNN um. Oder war es FUC? Irgendwie waren die Sender einander so ähnlich geworden.

»Guten Morgen, meine Herren«, sagte eine gutgelaunte Stimme aus Richtung der Tür. Es war der Präsident. Neben ihm stand Albert Rave, so wie nahezu immer in letzter Zeit. »Hat die Operation Gänseflug funktioniert?« Burton verzog kaum merkbar das Gesicht. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, wie agil der Präsident plötzlich war. Womit fütterte Rave ihn bloß neuerdings?

Drillson stieß die Hacken zusammen und nickte. »Jawohl«, sagte er. Nur Wolfstetter sah noch etwas bedrückter aus als zuvor.

»Gut, gut«, sagte der Präsident aufgeräumt. »Das Wichtigste, an dem wir jetzt arbeiten müssen, ist, weiterhin den Irak mit den Anschlägen auf das World Trade Center in Verbindung zu bringen. Unser Amt für Strategischen Einfluss hat zwar schon exzellente Arbeit geleistet und Beweise vorgelegt, doch leider hat die Presse einige davon unschön zerpflückt. Aber nun haben wir Saddam, den Oberschurken, ja in Gewahrsam. Was war denn nun Ihre geniale Idee, lieber Harry?«

Wolfstetter hüstelte. »Ähm, Mister President«, sagte er. »Wie ich gerade erklärte, ist da leider ein Problem aufgetreten.« Er drückte erneut auf die Fernbedienung und das Video startete von vorne. Der dunkelhaarige Endfünfziger wurde, schmutzig und erschöpft, aus einem Erdloch gezogen. Ein Arzt mit Gummihandschuhen untersuchte ihn. Dann stand er mit dunklem Bartschatten, finsterem Blick und Handschellen in einem Gerichtssaal, umringt von Männern im Kaftan und Männern in Uniformen der U. S. Army. Nach einem Schnitt erschien ein agiler Mittvierziger, der grinsend in die Kamera sah. »Das waren schlechte Nachrichten«, sagte er. »Aber es gibt auch gute Nachrichten. Fünfzehn Minuten ersparen Ihnen fünfzehn Prozent bei ihrer Autoversicherung.«

»Wie kommt denn das da rein?«, fragte der Präsident.

»Keine Ahnung«, sagte Wolfstetter und spulte rasch vor. »Vielleicht Corporate Sponsoring?« Sekunden später war auf dem Video wieder der Endfünfziger zu sehen. Er lag auf der roten Ledercouch vor dem Schweizer Alpenpanorama. Seine Haare waren nun lang und halbwegs glatt und auch seine Gesichtshaut war geglättet. Die Tränensäcke waren weg und die Wangen deutlich schmaler. Das ganze Gesicht war schmaler. Er trug einen langen schwarzgrauen Bart, der wie angeklebt wirkte. Nur die Augen hielt er geschlossen. Er sah aus wie eine verunglückte Kopie von Osama Bin Laden.

»Oh, mein Gott«, sagte Drillson zu Burton. »Das ist also ihr genialer Plan? Saddam Hussein in Osama Bin Laden zu verwandeln? Ich dachte, wir wollten ihn als Saddam gestehen lassen, die Anschläge auf das World Trade Center verübt zu haben?«

»Ich fand, das hier wäre glaubwürdiger«, sagte Burton gequält.

Drillson schüttelte den Kopf. Er war sich noch nicht ganz sicher, ob das Ganze ein genialer Plan oder der nackte Wahnsinn war. »Sie hätten mir wenigstens Bescheid sagen können«, knurrte er. »Aber wo ist nun das Problem?«, wollte er von Wolfstetter wissen.

»Das Problem«, sagte Wolfstetter, »ist, dass er die Fettabsaugung nicht überlebt hat.«

Selbst in seinem neuen, agilen Zustand brauchte der Präsident ein paar Sekunden, um diese Information zu verarbeiten. »Sie meinen, er ist tot?«

Wolfstetter zuckte traurig mit den Schultern und nickte. »Er hat auf eine Vollnarkose bestanden«, erklärte er. »Da besteht immer ein gewisses Risiko.«

Das durfte nicht wahr sein, dachte Drillson. Und es war der Beweis, dass er wirklich ausschließlich von Idioten umgeben war. »Erzählen Sie mir gerade, dass Saddam den Löffel abgegeben hat, noch bevor er ein Geständnis ablegen konnte und die Operation zu Ende war?«, fauchte er in die Richtung von Burton und Wolfstetter.

Burton verzog den Mund. »Und wenn wir ihn als toten Osama vorführen?«, schlug er vor.

»Reden Sie keinen Unsinn«, sagte Drillson gleichbleibend scharf. »Sieht er etwa aus wie Osama? Eher sieht er aus wie ein schlecht gealterter Michael Jackson.« Dann wandte er sich an Wolfstetter. »Aber wir haben doch noch die Doubles, oder?«

Wolfstetters Gesicht sah nun so zerfurcht aus wie das von Liza Minelli ohne Make-up. »Ja, aber die können wir für einen Auftritt als Osama wirklich nicht nutzen«, sagte er. »Dafür brauchen wir einen Vollprofi und keinen von der Straße geholten Puerto-Ricaner.«

Erstaunlicherweise war es der Präsident, der die entscheidende Frage stellte. »Wie präsentieren wir nun einen Schuldigen für die Anschläge auf das World Trade Center?«

Alle sahen sich ratlos an. Drillson begriff, dass er etwas sagen musste. »Vielleicht könnten wir einen Oppositionellen finden, der gegen Saddam aussagt?«

»Ich weiß nicht«, entgegnete Rave. »Von denen wurden auch schon zwei oder drei von der Presse auseinandergenommen. Aber ich habe da noch etwas.« Er zog ein Bündel aus seiner Aktentasche. »Vielleicht lässt sich das erst mal verwenden.«

»Oh ja«, stöhnte Linda. »Oh mein Gott, halt mich fest!« Tom Powders Finger streichelten zärtlich ihren flachen Bauch und ihre Hüften. Dann zog er sie in seine Arme und sie schloss die Augen. Es war wunderbar, die warme Haut eines Mannes auf der ihren zu spüren! Nun legte er sich auf sie, heftig atmend. Er war so weit. Und sie auch. Schon lange. »Ja!«, sie stöhnte noch einmal und schrie nun fast. »Jetzt!« Er griff ihre Handgelenke, zog sie über ihren Kopf und küsste ihr Gesicht, ihre Wangen, ihre Halsbeuge und ihre Schultern. Noch während er sie küsste, drang er in sie ein. Ihrer beider Begierde, ließ ihre Körper verschmelzen. Das Gefühl war so intensiv, dass sie beinahe ohnmächtig wurde.

Als es vorbei war, rollte Tom Powder sich völlig erschöpft auf den Rücken. Er brauchte einige Zeit, bis er sich aufrichten und auf den Ellbogen stützen konnte. Dann streckte er seine Hand aus und streichelte Linda ganz langsam. »Geht es dir gut?«, fragte er.

Sie lächelte und schob sich ein wenig näher an ihn heran. »Natürlich«, antwortete sie.

»Ich bin noch immer besorgt, dass uns irgendwer hier erwischen könnte«, flüsterte Powder in ihr Ohr. »Es ist ein Wunder, dass es so lange gut gegangen ist. Das hier ist immerhin das Schlafzimmer des Weißen Hauses.«

Linda zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, dem Präsidenten ist das inzwischen egal«, sagte sie. »Außerdem ist er gar nicht in Washington. Er ist in den Irak geflogen. Zur Truppenbetreuung, glaube ich.«

»Findest du nicht auch, dass der Präsident seit ein paar Monaten irgendwie verändert wirkt?«, fragte er. »Aufgeräumter, agiler? Beinahe so, als sei er mit zusätzlichen Gehirnzellen gefüttert worden?«

Sie nickte. Dabei hielt sie ihre Augen geschlossen. Am liebsten wäre sie für immer so liegengeblieben. Wenn doch nur der Präsident nicht wäre.

Powder gab nicht auf. »Sind dir vielleicht andere Angewohnheiten bei ihm aufgefallen?«, fragte er.

Sie öffnete die Augen, richtete sich auf und dachte nach. »Diesen komischen Fitnessdrink trinkt er jedenfalls zum Glück nicht mehr«, sagte sie. »Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, ist mir wirklich etwas aufgefallen. Ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber Rave hat so eine Art Metalldetektor in allen Räumen des Weißen Hauses installieren lassen. Und ich glaube, auch im Pentagon und der Air Force One. Da drüben an der Tür ist einer, siehst du?«

»Metalldetektoren?«, fragte Powder.

Sie nickte. »Das sagt jedenfalls Rave. Für mich sehen die aber mehr aus wie … ich weiß nicht, wie Langwellenempfänger? Oder vielleicht Radargeräte?«

Nun lächelte er, ein ganz klein wenig. »Vielleicht will Rave den Präsidenten wegbeamen lassen, wenn er ihn nicht mehr braucht.« Er rutsche wieder ein paar Zentimeter näher an sie heran. »Er ist doch mit der Air Force One im Irak, oder?«

»Ich glaube schon«, sagte sie. »Was ist da unten eigentlich los? Läuft da wirklich alles so glatt, wie FUC und CNN behaupten?«

Powder schüttelte den Kopf. »Wenn du wüsstest«, sagte er. »Da unten ist der Teufel los. Aufständische überall und unseren Jungs fliegen täglich die Kugeln um die Ohren. Das wird noch böse enden.«

Sie seufzte. »Und Saddam Hussein? Warum haben wir den noch nicht gefangen?«

»Keine Ahnung«, antwortete er. »Aber das ist wohl nur noch eine Frage der Zeit.« Er vergrub sein Gesicht in ihrer Armbeuge. »Mach dir keine Sorgen«, flüsterte er. »Alles wird gut.«

»Ach, mir ist noch etwas aufgefallen«, sagte sie. »Er hat im Nacken plötzlich so eine komische Narbe. Eine dünne, zickzackförmige Narbe. Und Jeremiah, mein Schwager, hat jetzt auch so eine. Glaubst du, dass …« Sie verstummte, als sie ein Geräusch von der Tür zum Vorraum hörte. Auch Powder schrak zusammen und drehte sich auf die Seite, so dass er die Tür sehen konnte. Nichts.

Vorsichtshalber ließ er sie nun los, küsste sie flüchtig auf die Wange und richtete sich auf. »Warte«, sagte er. Er schlich leise zur Tür und stieß sie plötzlich und heftig auf. Vor der Tür war auch nichts. Vielleicht hatten sie sich getäuscht. Er wollte sich schon wieder zu ihr in das rosaseidene Bett legen, da bemerkte er, dass das Geräusch offenbar aus dem Kasten bei der Tür kam, auf den Linda noch vor ein paar Minuten gedeutet hatte. An dem Kasten war ein metallener Griff, an dem er – nach kurzem Zögern – zog.

Mit lautem Brummen sprang der Kasten auf. Darin waren allerlei Drähte, rotierende Metallscheiben, blinkende Lichter und dünne Leitungen. Der Kasten brummte noch einmal laut und wurde dann still. Powder fühlte einen merkwürdigen ziehenden Schmerz in seinem Nacken. So, als ergreife ihn eine riesige unsichtbare Hand und versuche, ihn auf die Beine zu stellen.

Wieder das Geräusch. Es war doch nicht von dem Kasten gekommen, sondern von der Tür. Powder stieß sie auf und konnte gerade noch an der gegenüberliegenden Tür, die ins Treppenhaus führte, einen Schatten erkennen.

Er überlegte ein paar Sekunden, was er tun sollte – er war schließlich immer noch nackt – dann trat er in den Vorraum. Keine Spur eines Eindringlings zu sehen. Oder? Plötzlich sah er auf dem Teppich zwischen den beiden Plüschsesseln und dem Beistelltischchen etwas blitzen. Er trat näher heran und hob den Gegenstand auf.

Es war ein Manschettenknopf. Der Knopf war aus Silber mit einer Einlage aus Lapislazuli. »Linda!«, rief Powder. »Linda – ich glaube, ich habe etwas Interessantes gefunden. Wo sind denn die Manschettenknöpfe deines Mannes? Ich muss etwas vergleichen!«

Linda antwortete nicht. Als er wieder ins Schlafzimmer trat, führte sie gerade ein Telefonat. Sie klang kühl und unaufgeregt. »Weißt du was, Wilma«, sagte sie, »und das kannst du Betty auch gleich erzählen. Macht doch, was ihr wollt. Mir ist es egal.«

Der Saal war voll bis auf den letzten Platz. Männer mit Zottelbärten. Junge Frauen mit T-Shirts, auf denen Sprüche wie »My Bush Would Be A Better President« oder »The CIA Knew« standen. Alte Frauen mit dicken Brillen und ACLU-Mitgliedskarten. Frauen im Sari. Junge Anwälte in Jeans, die so taten, als seien sie cool. Dunkelhäutige Männer mit weißen Häkelkäppchen auf dem Kopf, die unbehaglich dreinschauten. Kleinkinder mit Bandanas. Hunde mit Bandanas. Der eine Feuerwehrmann, der sich als Zeuge für das »Forum für Wahrheit und gegen die Verschwörung der Regierung« zur Verfügung gestellt hatte. Und überall Verkäufer. In dem alten Opernsaal in Manhattan hatten sich alle die getroffen, die sich nicht mit den offiziellen Erklärungen abfinden mochten. Mitten unter den mehr als tausend Skeptikern saß ein junger Mann in schwarzen Jeans und grünem Sweatshirt, auf dem »Groom Lake« stand. Die langen braunen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Manuel Goldstein aus Rachel, Nevada.

Manuel hockte angespannt auf der vordersten Kante des Sitzes. Er war ein wenig müde nach der langen Anreise. Er kam mit einem Billigflieger und hatte in Atlanta umsteigen müssen. Außerdem war er nicht mehr daran gewöhnt, inmitten von so vielen Leuten zu stecken, die alle durcheinanderredeten und sich per Ellbogen ihren Weg bahnten. Und er war nervös, weil er befürchtete, vielleicht beobachtet werden zu können.

Die Feds waren nicht wieder bei seinem Trailer aufgetaucht. Er hatte allerdings auch keine geheimnisvollen schwarzen Vögel mehr am Himmel gesehen. Der Krieg hatte sich über alles gelegt wie ein lähmendes Gift. In Washington behauptete man inzwischen, Saddam Hussein stecke hinter dem Anschlag auf das World Trade Center. Aber das taten sie wohl nur, weil sie Bin Laden nicht fangen konnten.

Bevor er nach New York geflogen war, hatte er Jason angerufen und war ziemlich schockiert gewesen, als der ihm erzählt hatte, er sei gefeuert worden. Er hoffe aber, bald etwas anderes zu finden. Dabei hatte Jason allerdings nicht sehr hoffnungsvoll geklungen. Aber er werde nach New York kommen. Er habe Neuigkeiten über Claudette. Allerdings keine guten Neuigkeiten. Manuel sah sich um, konnte Jason aber nirgends erspähen. In der ersten Pause würde er ihn noch einmal anrufen.

Manuel war auf der Konferenz, weil es – wie er hoffte – eine neue Spur gab. WarriorKahless hatte sich wieder bei ihm gemeldet. Besser gesagt, hatte er Manuel förmlich mit E-Mails bombardiert. Er solle unbedingt nach New York fahren. Wenn das, was er im Geheimdienstapparat gehört habe, stimme – und er sei sich sicher, dass es stimme –, werde Manuel dort einen wichtigen Informanten treffen, hatte WarriorKahless geschrieben. Einen, der ihm helfen werde, das Rätsel um das World Trade Center zu lösen. Er dürfe aber nicht mehr verraten, sonst gefährde er das Leben dieses Informanten. Manuel hatte nach längerer Überlegung beschlossen, WarriorKahless zu vertrauen. Er hätte nur gerne gewusst, auf wen er hier eigentlich wartete.

Vorne auf der Bühne hatte gerade die Punkrockband Rosie O’Donnell & The Dead Goldfish ihren Auftritt beendet. Nun sprach ein junger Mann von der Columbia University vor einer Videoleinwand über einen mysteriösen Blitz, der schon Millisekunden vor dem Aufprall der beiden Flugzeuge an der Fassade der Twin Towers zu sehen gewesen sei. Das beweise, dass die Flamme nicht vom Kerosin stammen könne. Manuel gähnte. Er glaubte nicht, dass jemand, der eine halbe Stunde brauchte, um einen Videoprojektor zum Laufen zu bringen, hinreichend qualifiziert war, komplizierte technische Vorgänge zu beurteilen. Erst als der nächste Redner angekündigt wurde, schreckte er auf. Ein politischer Flüchtling aus Pakistan. War das der Überraschungsgast, den WarriorKahless gemeint hatte? Manuel starrte den Mann auf der Bühne an, der offenbar nicht erkannt werden wollte. Er trug ein Bandana über dem Mund und der Nase. Nur seine Augen waren zu sehen.

»Nennt mich Ali«, sagte der Mann. »Ich habe für den ISI, den pakistanischen Geheimdienst, gearbeitet. Wir haben das Grenzgebiet zu Afghanistan bewacht und die Pipelines und die Ölanlagen vor Saboteuren geschützt. Es war gefährlich, aber wir wurden gut bezahlt. Doppelt sogar, von unserer Regierung und von einem Mann, der Chef einer amerikanischen Ölfirma war. Wir haben dessen Namen nie erfahren, aber ich habe ihn einmal von weitem auf einem Parkplatz gesehen, als er von einer Limousine abgeholt wurde. Er war mindestens sechzig Jahre alt, ziemlich feist und er hatte eine Glatze mit einem Kranz weißer Haare. Er sah aus wie euer Vizepräsident. Wie Harold H. Burton.«

Burton! Manuel unterdrückte einen Pfiff. Konnte das wahr sein? Allerdings traf die Beschreibung auf jeden zweiten Amerikaner dieses Alters zu. »Wir waren dreißig, vierzig Männer, alle jung und durchtrainiert«, sagte Ali. »Bis eines Tages die Hälfte von uns nicht mehr zur Arbeit kam. Ich habe sie erst wieder im Fernsehen gesehen. Auf Steckbriefen nach dem Anschlag auf das World Trade Center. Nur den vermeintlichen Anführer, den kannte keiner von uns.«

Nach dem Vortrag – zur Auflockerung spielte die palästinensische Folkloregruppe Eternal Dschihad Lieder gegen den Krieg – rannte Manuel hinter dem Pakistani her, der seinerseits versuchte, so schnell wie möglich von der Bühne zu gelangen. »Warten Sie!«, rief Manuel ihm nach. Manuel erwischte den Mann gerade noch am Hinterausgang des Saales. Der Mann kam ihm irgendwoher vage bekannt vor.

»Keine Sorge, ich arbeite nicht für die Feds«, sagte Manuel. »Bitte, hören Sie mir zu. Ich recherchiere gemeinsam mit einem Freund, der für eine große amerikanische Zeitung schreibt, über die wahren Hintergründe des Anschlags auf das World Trade Center. Ich fand Ihren Vortrag sehr interessant. Können Sie noch ein paar mehr Details nennen?« Er hatte eigentlich »Beweise« sagen wollen, aber das traute er sich nicht.

»Sind Sie auch Journalist?«, fragte der Pakistani.

Manuel überlegte kurz. Student der Kunstgeschichte klang nicht so beeindruckend. »Ich bin Hacker«, sagte er. »Ich verstehe etwas von Computern.« Und dann, in einem ebenso verzweifelten wie tollkühnen Versuch, das Vertrauen seines Gegenübers zu gewinnen: »Ich soll Sie von WarriorKahless grüßen.«

Das war das Zauberwort. Der Blick des Pakistanis öffnete sich. Er sah sich kurz um und zog einen Gegenstand aus seiner Tasche. »Vielleicht hilft Ihnen das«, sagte er und drückte Manuel ein Stück Metall in die Hand. »Aus Karachi. Das soll aus dem Computer eines amerikanischen Journalisten stammen, der ermordet wurde.« Dann drehte er sich um und ging. Manuel schob das Metallstück unter sein T-Shirt und drückte sich durch die Tür wieder in den Opernsaal.

Lange hielt es ihn nicht mehr in seinem Sessel. Als er auf die West 34th Street trat, um in die U-Bahn zu steigen, blickte er sich vorsichtig um. Er sah niemanden, der ihn beobachtete. Aber vielleicht waren sie auch einfach nur zu gut.

Im Hotelzimmer angekommen, zog Manuel das Metallstück unter seinem T-Shirt hervor und legte es auf den wackeligen Tisch. Es war die Festplatte eines Computers. Er griff nach seinem Laptop, schraubte die Rückseite auf und klappte sie hoch. Er grunzte erleichtert. Gott sei Dank, die Festplatte passte in seinen Mac.

Es war nicht einfach, sie zu installieren, aber Manuel verstand etwas von diesen Dingen. Nachdem er sie angeschlossen hatte, öffnete er das Festplattenverzeichnis auf seinem Bildschirm. Dann klickte er auf den ersten Ordner. Darin waren achtzehn Dateien mit arabisch klingenden Namen. Er öffnete die erste von ihnen, die »Atta.pdf« hieß, und eine Art Steckbrief eines Mannes erschien auf dem Schirm. Vielmehr schien es eine Art Lebenslauf zu sein. In der Datei war penibel aufgelistet, wie der Mann hieß, wie alt er war und was er wo und wann getan hatte. Dazu ein großformatiges Foto des Mannes. Es war der vermeintliche Anführer der Attentäter.

Die übrigen Dateien waren gleich aufgebaut. Es waren die achtzehn Flugzeugentführer, kein Zweifel. Manuel öffnete den nächsten Ordner mit Bilddateien im jpeg-Format. Als er das erste Bild anklickte, füllte es den ganzen Bildschirm seines Laptops aus. Es war das Cockpit eines Flugzeugs mit allen Anzeigen und Instrumenten. Das Cockpit einer Boeing 767.

Manuel wurde langsam schwindelig. Der nächste Ordner enthielt nur Audio-Dateien. Vielleicht hatte der tote Journalist – falls das überhaupt wirklich dessen Festplatte war – seine Interviews digital abgespeichert. Aber die Dateien klangen nicht nach Interviews. Als Erstes hörte Manuel einen entsetzten, unterdrückten Schrei und dann eine weibliche Stimme. »Oh Gott, sie haben … sie haben … es sind Entführer, mindestens drei. Sie haben das Flugzeug übernommen.« Wieder war ein paar Sekunden nur Schluchzen zu hören, dann noch einmal die Frauenstimme, während das Getöse im Hintergrund anschwoll. »Sie … sie haben, sie haben Teppichmesser. Ich habe Angst. BITTE tu etwas. Ruf das FBI, die CIA, irgendwen.« Wieder Schluchzen. »Kannst du mich noch hören? Die Verbindung ist so schlecht … Oh Gott, sie kommen, sie …«

Das Fenster auf seinem Computer schloss sich wieder. Manuel warf einen Blick auf die Uhr. Ein Uhr nachts. Egal. Er griff zu dem elfenbeinfarbenen Telefonhörer neben seinem Bett und wählte eine Mobilnummer. Am anderen Ende meldete sich eine schläfrige Stimme. »Gilligan«, sagte die Stimme. »Wer ist denn da?«

»Jason, ich bin es, Manuel«, sagte er. »Bist du in New York? Du musst sofort kommen. Sofort. Ich habe etwas Unglaubliches entdeckt. Ich habe … nein, ich kann es dir nicht am Telefon sagen. Das wäre viel zu gefährlich. Komm hierher. 129 West 81st Street, Hotel Kramer.

Als er sich zurücklehnte, durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Er wusste, woher er den Pakistani kannte, der ihm die Festplatte gegeben hatte. Das war einer der beiden Männer, die er im Winter gesehen hatte. Im Little A’Le’Inn.

 

Eine halbe Stunde später klopfte ein übermüdeter und genervter Jason Gilligan an die Zimmertür im Hotel Kramer. Niemand antwortete. Er klopfte noch einmal. Wieder nichts. War Manuel etwa eingeschlafen? Er überlegte kurz und drückte die Klinke herunter. Die Tür war nicht abgeschlossen. Als sich seine Augen an das dunkle Zimmer gewöhnt hatten, erkannte er einen Körper auf dem Bett. Einen jungen Mann mit Pferdeschwanz und nacktem Oberkörper. Er lag auf dem Bauch und hatte einen großen dunkelroten Fleck zwischen den Schulterblättern. Und er rührte sich nicht.

Jasons zitternde Finger fanden den Lichtschalter. Er spurtete zum Bett, packte Manuel an den Schultern und schüttelte ihn. »Manuel!«, rief er. »Mein Gott, Manuel, wach auf!«

Manuel bewegte sich nicht. Er atmete nicht einmal. Seine rechte Hand hielt das Kabel eines Laptops umklammert. Aber Jason sah keinen Laptop. Als er den schlaffen Körper herumdrehte, konnte er nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken. Manuels Gesicht war blutverschmiert. Auf seiner nackten Brust prangte eine Wunde, die aussah wie das Einschussloch eines Revolvers.

Danny Patrick Rose

Danny Patrick Rose schreibt unter anderem Namen für die US-Fernsehshows Real Time und die Daily Show. Er begann als Stand-up-Comedian in seiner Heimatstadt Salt Lake City, studierte Civic Disobedience am City College in New York und arbeitete dann als Coach für das Baseballteam Boston Red Sox, Pizzalieferant für Tupac Shakur und Faktenchecker beim Council of Foreign Relations. Danach eröffnete er eine Stripbar in New Orleans. Als ihn das FBI als Person of Interest suchte, tauchte er in New Mexico unter, wo er bewusstseinserweiternde Kekse mit Kakteen kreuzte. Nach einem Burnout reiste er nach Indien, die Mongolei und Liechtenstein und verbrachte ein Jahr in London als Liebhaber der Duchess of York. Zurück in den USA, konzipierte er Sitcoms unter dem Pseudonym Tucker Carlson. Heute lebt der Autor des Politfachblatts The Onion und Hobbyveganer im Brooklyner Stadtteil Crown Heights mit seiner dreibeinigen Katze Petunia und zwei Piranhas. Die Verschwörung ist sein erster Roman. Er beruht auf einer wahren Geschichte.
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