Die Verschwörung, Folge 7 — Die Schöne und das Biest

New Yorker Skyline mit WTC
Bild: privat

Der Präsident, der ein bisschen zu viel trinkt, bekommt von seinem Berater Albert Rave einen Medikamentencocktail verschrieben, während die First Lady schon wieder Ärger mit ihren Zwillingen hat. Sie ruft Außenminister Tom Powder an, um sich trösten zu lassen. Der aber versucht, aus ihr herauszukitzeln, welche Pläne der Präsident hat. Er hat ein Positionspaper über ein „Neues Pearl Harbor“ gefunden, das ein Jahr vor dem Anschlag verfasst wurde und das ihn sehr beunruhigt. Manuel kommuniziert mit seinem Internetfreund JEdgarH, um mehr über den Anschlag herauszufinden, JEdgarH jedoch zerreißt seine Theorien in die Luft. Aber als Manuel nach der Webseite der Polizei von Los Angeles sucht, scheint er eine Spur zu finden.

 

Es war alles eine Frage der Haltung. Die Haltung bestimmte, was die Welt über einen dachte. Dass ihm das nicht schon viel früher aufgefallen war! Wer Haltung hat, dem folgen die Menschen. Zu dem sehen sie auf. Bewundern ihn. So einfach war das. Eigentlich, dachte der Präsident, hätte ich das schon längst selbst erkennen können.

Der Präsident stand im Schlafzimmer und lächelte sein Spiegelbild an. Dann drehte er sich vor dem Spiegel hin und her und wippte ein bisschen in den Knien. Gut sah er aus. Sehr gut sogar. Er hatte eben Haltung. Seit Albert Rave sein persönlicher Berater war, ging es ihm noch besser. Viel besser. So viel er wusste, hatte Dewey Drillson das eingefädelt. Eine solche Menschenkenntnis hätte er dem alten Drillson gar nicht zugetraut. Dabei war Albert erst seit ein paar Wochen im Weißen Haus. Aber er war unglaublich effektiv und talentiert. Mit zwei, drei Blicken hatte Albert begriffen, wer er wirklich war und wie er sich verkaufen sollte.

Der Präsident drehte sich noch einmal. Schick sah sie aus, die Uniform. Wenn er damals schon gewusst hätte, wie gut ihm Uniformen standen, hätte er sich nicht vor dem Vietnamkrieg gedrückt. Na, wahrscheinlich schon, aber er hätte versucht, zunächst einmal ein paar öffentliche Auftritte in voller Montur hinzulegen. Dann hätte er sich irgendwohin versetzen lassen, wo es ruhig zuging. Okinawa oder so. Japanerinnen flachlegen und Reiswein saufen. Ob die wohl auch Bier hatten auf diesen japanischen Inseln oder bloß Reiswein?

Von seinem Bierkonsum war Albert übrigens nicht sonderlich begeistert. Er sagte, es verderbe die Haltung und sei proletarisch. Gerade in diesen Zeiten bräuchten die Menschen einen Präsidenten, der sich über sie erhob, elitär erscheine und so. Albert hatte ihm sogar schon etwas viel Besseres als Bier besorgt. Alkoholfrei zwar, aber trotzdem stimulierend. Eine Art Super-Gesundheitscocktail. Eine streng geheime Mischung aus Vitaminen, Mineralien, Nährstoffen, Steroiden und Enzymtransmittern. Enzymtransmitter waren – Albert hatte es ihm erklärt – Eiweißbausteine, die sich an seine Gehirnzellen anlagerten. Sie verbanden die Gehirnzellen miteinander, wodurch sich deren Leistung um das Achtzehnfache steigerte. Mindestens.

Er reckte sich noch einmal vor dem Spiegel und schob die Brust nach vorne. Dann die Hüfte. Blitzschnell griff er nach einem imaginären Colt an seiner Hüfte, zog, zielte und schoss auf sein Spiegelbild. Er traf, grinste und steckte den imaginären Colt wieder ein.

Orinoko war natürlich ein bisschen verschnupft gewesen. Wo war sie eigentlich? Er hatte sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Aber eigentlich hatte er im Moment auch gar keine Zeit für sie. Albert hatte ein volles Programm für ihn geplant.

Leider würde er Sport treiben müssen. Aber nur ein wenig, hatte Albert ihn beruhigt. Vielleicht ab und zu einen Baseball werfen oder einen Korb. Und das auch nur, wenn die Kameras liefen. Doch jetzt, wo er jeden Morgen ein bis zwei Gläser von diesem Vitamingetränk mit den Enzymtransmittern trank, machte ihm Sport gar nicht mehr so viel aus. Ganz im Gegenteil. Neulich war er vom Ostflügel des Weißen Hauses bis in den Westflügel gelaufen und es hatte ihm sogar Spaß gemacht.

Eine völlig neue Energie durchströmte ihn. Nein, nicht einfach nur Energie. Erregung. Er fand es unglaublich erregend, sich selbst im Spiegel zu betrachten. Sich, den mächtigsten Mann der Welt, in einer maßgeschneiderten Uniform, in der er wahnsinnig gut aussah. Die Uniform begann, im Schritt ein wenig zu spannen. Er griff sich in die Hose und sorgte dafür, dass seine eingeklemmte Männlichkeit sich frei entfalten konnte. Halb unbewusst fing er an, sich mit der rechten Hand zu reiben.

Er würde es allen zeigen, die gedacht hatten, er sei dumm. Ein Schwächling. Ein Feigling. Einer, der es nur der Protektion seines Vaters und der Krankheit seines Bruders zu verdanken hatte, dass er im Weißen Haus saß. Aber nun war ihm die Chance des Jahrtausends in den Schoß gefallen. Albert hatte ganz recht. Er würde sie alle zur Strecke bringen. Einen nach dem anderen. Zuerst diesen Osama-Terroristen – ganz klar! Dann all diese Araber dort unten, angefangen mit diesem – wie hieß er gleich wieder? – Mustafa? Mubarak? Musharraf? Dann die Demokraten. Diese Amerikahasser. Schwulenliebchen. Linken Spinner. Überhaupt alle, die gegen ihn waren. Diese sogenannten Künstler und Intellektuellen. Die Pressefritzen. Die vor allen Dingen. Mit denen würde er den Boden aufwischen. Dieses ganze verlotterte, arrogante, hochnäsige Pack.

Die Erregung des Präsidenten hatte ihren Höhepunkt erreicht. Er brauchte keinen von denen. Im Grunde nicht einmal Orinoko. Er brauchte nur sich. Und vielleicht Albert. Damit kam er, im hohen Bogen. Der Spiegel wurde so trüb wie Raves Pressetexte.

Noch so eine Katastrophe und ich erhänge mich, dachte Linda, als sie den Hörer wieder auflegte. Die First Lady konnte kaum glauben, was sie gerade gehört hatte.

Die Zwillinge. Seit Betty und Wilma auf dem College waren, hörten die schlechten Nachrichten nicht auf. Die beiden hübschen, drallen Siebzehnjährigen hatten nichts von der strengen Moral ihrer Großmutter geerbt. Oder von der melancholischen Grübelei ihrer Mutter. Nicht einmal die Faulheit ihres Vaters hatten sie geerbt, denn sie waren Tag und Nacht auf Achse. Ein Leben auf der Überholspur.

Gestern hatten sich die Zwillinge ein Auto geliehen – Linda hoffte, dass es geliehen war –, ein japanisches Auto noch dazu, aber das war jetzt egal. Einen Subaru SUV. Damit hatten sie auf dem Santa Monica Freeway einen anderen Wagen gerammt und waren dann im Verkehrs­chaos verschwunden. Linda war nicht ganz klar, was die beiden auf dem Santa Monica Freeway zu suchen hatten, aber sie wusste, wie der Secret Service sie erwischt hatte. Nämlich mittels einer Wanze, die am Unterboden des SUV klebte. Sie wurden erst so spät gefasst, dass kein nennenswerter Alkoholpegel mehr im Blut nachgewiesen werden konnte. Doch das war nur ein schwacher Trost.

Linda hatte das Gefühl, dass sie nun ganz dringend selbst einen Drink brauchte. Oder zwei. Leider konnte sie als First Lady nicht einfach so in eine Bar gehen. Aber es gab noch eine andere Möglichkeit.

Sie ging zu ihrem Schreibtisch. In der obersten Schublade lag die Visitenkarte, die sie sich in den letzten Monaten immer wieder angesehen hatte. Vor allem die handschriftlichen Worte auf der Rückseite.

»Rufen Sie mich an, wenn Sie Hilfe brauchen. Jederzeit.«

Heute, entschied Linda, war der Tag. Sie griff nach dem Telefonhörer. Eine Viertelstunde später war sie verabredet. Im Hinterzimmer des Café des Artistes im North-West-District von Washington, D. C. Mit Tom Powder, dem Außenminister.

»Es ist so nett, endlich mal ein freundliches Gesicht in Washington zu sehen«, sagte Powder. Er war eine stattliche Erscheinung, groß, kräftig, aber nicht dick, und sehr männlich. Er hatte zwar eine dunkle Haut, aber feine, fast kaukasische Züge, die durch die randlose Brille noch unterstrichen wurden.

Powder sah mindestens so besorgt aus wie sie, stellte Linda rasch fest. Er bestellte eine Flasche französischen Weißwein und zwei Gläser, legte die Brille vor sich auf den Holztisch und sah ihr in die Augen. Tiefe braune Augen hatte er, in denen sie ertrinken wollte. »Wissen Sie«, sagte er, »es ist nicht einfach, in diesen Wochen Außenminister zu sein.«

Sie nickte. Ihre dunklen Locken hatte sie zu einem dicken Pferdeschwanz gebunden, der beim Nicken mitwippte, was ihr etwas Mädchenhaftes verlieh. »Seit dem 11. September ist es wohl für uns alle nicht einfach.«

»Es ist nicht nur dieser Terroranschlag«, sagte er. »Das war nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird. Das Problem ist das Weiße Haus. All diese Berater, Lobbyisten und Unterstaatssekretäre, die insgeheim den Kurs der Politik beeinflussen. Man weiß überhaupt nicht, wer wirklich das Sagen hat. Was … was denkt der Präsident eigentlich, was jetzt geschehen soll?«

Linda seufzte. Ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte? Seit seine Berater ihn in die Mangel nahmen, trank der Präsident nur noch acht statt zehn Bier am Abend und stand dafür schon um elf Uhr vormittags auf statt um halb eins? »Der Präsident äußert sich auch mir gegenüber eher zurückhaltend«, sagte sie stattdessen.

Powder nickte. »Mir gegenüber auch«, sagte er. »Aber Sie sehen den Präsidenten doch zumindest häufiger, oder?«

Sie zögerte. »Er hat natürlich viel zu tun«, sagte sie. »Und er redet auch nicht gerne über große Politik.« Das zumindest war nicht gelogen.

»Kennen Sie eine Organisation, die sich ›Neues Amerikanisches Jahrtausend‹ nennt? Die sitzen hier in Washington, an der K Street. Ich habe mir vor ein paar Tagen deren Grundsatzpapier besorgt, und das liest sich wie der sichere Weg in den Dritten Weltkrieg. Hat der Präsident die vielleicht mal erwähnt?« Er klang noch etwas besorgter.

Linda schüttelte den Kopf. »Er, äh … er liest auch nicht sonderlich viel«, gestand sie. Ob sie erwähnen sollte, dass das Einzige, was er überhaupt las, Bierflaschen-Etiketten und Baseball-Ergebnisse waren?

Als Powder ihr das erwähnte Grundsatzpapier über den Tisch reichte, griff sie nur zögerlich danach. Sie hatte gehofft, über ihre privaten Probleme reden zu können und weniger über Politik. Im Grunde ihres Herzens langweilte sie Politik. Eine der ganz wenigen Gemeinsamkeiten zwischen ihr und dem Präsidenten.

Aber das Papier war letztlich doch noch beunruhigender als der Crash der Zwillinge. Darin war von der »größten Bedrohung seit dem Ende des Kalten Krieges, die von der Golfregion ausgeht« zu lesen, weshalb die USA eine »substanziell erhöhte Militärpräsenz am Golf« brauche, sonst könne man nicht »unsere vitalen Interessen schützen«. Und dazu wiederum benötigten die USA »mindestens fünfzehn, wenn nicht zwanzig Milliarden Dollar mehr an Militärausgaben jedes Jahr«.

Und dann kam der entscheidende Satz: »Dieser Prozess der Transformation wird wahrscheinlich sehr lange dauern, es sei denn, ein katastrophales und katalysierendes Ereignis tritt ein – ein neues Pearl Harbor.«

Als Linda sah, wer das Papier unterschrieben hatte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Es waren Lucius Prince, Doktor Henry Wolfstetter, Dewey Drillson, Harold H. Burton, Joseph Brisbane und Jeremiah, der Bruder des Präsidenten.

Am meisten aber beunruhigte ihn

das Datum: Der 11. September 2000. Genau ein Jahr vor den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon.

Linda sah Powder ein wenig ratlos an. »Das kann natürlich Zufall sein«, sagte sie.

»Sicher«, sagte er und sah ihr noch einmal intensiv in die Augen. »Aber das ist noch nicht alles«, fuhr er fort. »Dieser Anschlag auf das World Trade Center – wissen Sie eigentlich, was dabei noch alles zerstört worden ist?«

Sie überlegte. »Lag nicht das New Yorker Büro des FBI im World Trade Center?«, fragte sie. Irgendwo hatte sie das gelesen. Oder gehört.

Er nickte. »Das auch«, sagte er. »Aber das ist nicht das Wichtigste. Die Börsenaufsicht war dort. Jedenfalls die Abteilung, die Kartell­ermittlungen gegen Ölunternehmen führt.«

»Kartellermittlungen?«, fragte sie zerstreut.

»Ja«, antwortete er. »Kartellermittlungen und auch Ermittlungen wegen Betrugs. Und noch erstaunlicher ist, dass auch die Reste des World Trade Centers, all diese Tonnen von Stahlträgern, spurlos verschwunden …« Er geriet ins Stocken, als er bemerkte, wie bedrückt sie aussah, und griff nach ihrer Hand. »Ich bin wirklich zu egoistisch«, entschuldigte er sich. »Ich rede die ganze Zeit und Sie haben noch nicht einmal bestellt! Wie wäre es mit Gnocchi? Und dann reden wir erst mal über Ihre Sorgen.«

Es gab nur eine Möglichkeit, der Einsamkeit in der Wüste Nevadas zu entkommen, und das war die Flucht in die digitale Zwischenwelt des World Wide Web. Seit dem frühen Nachmittag saß Manuel Goldstein schon vor seinem Computer und suchte nach Antworten. Die grau-schwarze Katze räkelte sich unterdessen in der Hängematte hinter ihm und der Fernseher lief stumm nebenher. CNN. Manuel konnte das Kriegsgeschrei von FUC nicht ertragen.

Allerdings überschlug sich auch CNN seit dem 11. September vor Patriotismus. Der Sender hatte sich in nur vier Wochen vom Slogan »America under Attack« über »God Bless America« bis hin zu »America Strikes Back« vorgearbeitet. Auf dem Bildschirm war eine unnatürlich hell gefärbte Blondine zu sehen. Sie hatte unglaublich weiße Zähne und trug, wie derzeit alle Moderatoren auf allen Kanälen, ein rot-weiß-blaues Fähnchen am Revers. Mannshohe Fahnen in den Nationalfarben standen auch hinter ihr im Studio.

Manuel versuchte gerade, mehr über den Anschlag auf das World Trade Center herauszufinden. Es lief zäh. Sehr zäh. Vor allem deshalb, weil er seine Erkenntnisse und Theorien immer gleich an JEdgarH weiterleitete, der sie umgehend in der Luft zerriss. In den ersten anderthalb Stunden war er auf diversen Websites aus dem Mittleren und Fernen Osten herumgesurft, von der Asia Times bis zu Al Jazeera.net – die es leider nur auf Arabisch gab –, bis er eine interessante neue Seite entdeckte, die ebenfalls aus dem arabisch-pakistanischen Raum stammte, aber wenigstens auf Englisch verfasst war. Dort ging es um die Flugzeugentführer. Laut FBI neunzehn Männer, allesamt mit arabischen Namen. Doch warum, fragte die Website, standen diese neunzehn Namen nicht auf den Passagierlisten der Fluggesellschaften, die das FBI veröffentlicht hatte? Und warum waren die vier Flüge nur zu einem Viertel ausgelastet gewesen?

Die Website hatte sogar Fotos der neunzehn Entführer gepostet. Nicht die bekannten Fahndungsfotos des FBI, sondern allem Anschein nach Privataufnahmen. Das Erstaunliche daran war, dass einige der Fotos in den Tagen nach dem 11. September aufgenommen worden waren. Das jedenfalls behauptete die Website, die einen der Männer mit einer auf den 20. September datierten Zeitung abgebildet hatte. Ein anderer vermeintlicher Entführer stand sogar vor dem brennenden World Trade Center und grinste in die Kamera. Er hatte einen dieser komplizierten arabischen Namen, die sich Manuel sowieso nie merken konnte. Er klickte ein Fenster weiter und landete wieder beim FBI und dem Fahndungsplakat. Kein Zweifel, es war der gleiche Mann.

»Klar, der tote Entführer turnt ausgerechnet vor dem World Trade Center herum – hast du schon mal was von Fotomontage gehört?«, mailte JEdgarH zurück. »Außerdem, sehen denn nicht alle Araber irgendwie gleich aus?«

Manuel streckte dem Computerbildschirm die Zunge heraus. Dann würde er eben eine seriösere Quelle suchen: Die Websites der Washington Post und des Boston Globe. Die Entführer waren von Washington und Boston aus gestartet und Reporter beider Zeitungen hatten mit Angestellten der Flughäfen und mit Passagieren anderer Flüge gesprochen. Einige von ihnen konnten sich an die Entführer oder zumindest an eine Gruppe arabisch aussehender Männer erinnern, wenn auch eher vage. Plötzlich überkam Manuel ein Geistesblitz. Er rief die Website des Miami Herald auf – schließlich hatten die Entführer auf einer Flugschule in Florida ihr Handwerk gelernt. Und tatsächlich hatte der Herald mit den Betreibern der Flugschule geredet. Die allerdings hatten die Entführer in ganz anderer Erinnerung als die Passagiere in Boston. Oder das FBI. Viele der Beschreibungen waren komplett gegensätzlich.

Die Flugschule brauchte er laut Miami Herald jedenfalls nicht mehr zu besuchen. Das FBI war bereits dort gewesen und hatte alle Unterlagen mitgenommen. Noch am Nachmittag des 11. September. In einer Cessna, die dem Bruder des Präsidenten gehörte.

Manuel kopierte die Links in die nächste E-Mail an JEdgarH und schickte sie sofort ab. Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Antwort kam. »Lies doch mal Beschreibungen verschiedener Zeugen vom gleichen Autounfall«, schlug JEdgarH vor. »Du würdest dich wundern, wie viele Menschen einen Porsche nicht von einem Mazda Miata unterscheiden können.«

Es wurde langsam dunkel. Die Katze war wach geworden und putzte sich. Irgendwie war Manuel auf eine Seite geraten, die dem israelischen Geheimdienst nahezustehen schien. Oder war es der KGB? Waren das hebräische oder kyrillische Buchstaben am oberen Rand? Immerhin war der Text im Browserfenster auf Englisch: Alle Entführer hatten vor dem Abflug ihre Rechnungen in Florida beglichen. Mit Kreditkarten, die auf ihre Klarnamen liefen. Danach hatten sie den Todesflug gebucht, wobei einige Entführer vor ihrem Todesflug noch ein Miles-und-More-Konto eröffnet hatten.

Die Tasche eines Entführers war im Flughafen von Boston hängengeblieben. Darin waren ein Abschiedsbrief an seine Freundin und Fluganleitungen gefunden worden. Warum ließ ein Entführer seinen Abschiedsbrief in einer Tasche, die eigentlich an Bord eines Flugzeugs hätte gelangen sollen, das wiederum zerschellen sollte? Und wenn er Fluganleitungen brauchte – warum nahm er sie nicht mit ins Handgepäck? Und überhaupt: Waren all diese Spuren nicht viel zu auffällig?

»Vielleicht waren diese Anleitungen bloß Kopien und die Originale waren im Handgepäck«, schlug JEdgarH vor. »Und für den Brief an die Freundin gibt’s auch eine Erklärung: Vielleicht hat der Entführer kalte Füße bekommen und wollte ihn dann doch nicht abschicken. Was die Bezahlung mit Kreditkarte angeht – vielleicht wollten sie einfach kein Risiko eingehen, von der Polizei als Zechpreller aufgehalten zu werden. Wenn sie tot sind, kann’s ihnen doch egal sein, ob noch Geld von ihrem Konto abgeht.«

»Ich hasse JEdgarH«, sagte Manuel zu seiner Katze, die ihn ihrerseits abschätzig ansah. Oder war sie bloß hungrig? Aber er hatte doch noch ein Ass im Ärmel, oder? »Der Pass«, mailte er. »Zu den angeblichen Beweisstücken, die das FBI vorgelegt hat, gehört ein völlig unversehrter Pass eines Attentäters, der am World Trade Center gefunden worden sein soll, während von den beiden Maschinen nichts mehr übriggeblieben ist. Wie kann das sein?«

»Wo hast du das her?«, fragte JEdgarH prompt.

»Aus dem Internet natürlich!«, mailte er zurück.

»Keine weiteren Fragen, Euer Ehren«, spottete JEdgarH.

Die Katze versuchte nun, auf die Tastatur zu klettern, aber Manuel packte sie am Genick und setzte sie wieder auf den Boden. Neben dem Computer vertrockneten Cornflakes in einer Schale mit ein wenig Milch. So schnell gab Manuel nicht auf. Er gab die Stichworte »9-11«, »CIA«, »Knowlegde« und den Namen eines vermeintlichen Entführers ein und landete, über mehrere Umwege, auf der Website der Polizei von Los Angeles. Nein, die Site gab nur vor, zur Polizei von Los Angeles zu gehören. Tatsächlich wurde sie von jemandem betrieben, der sich mit dem Polizeiapparat von L. A. offenbar gut auskannte.

An der Randleiste war ein gutes Dutzend von Polizeioffizieren abgebildet. Daneben war aufgeführt, welche Art von Drogen sie in welcher Menge konsumierten und wo sie den Stoff beschlagnahmten.

»Na gut«, gestand JEdgarH ein. »Das klingt plausibel. Aber was sagt uns das?«

Auf der Website war ein interner Report des Immigration and Naturalization Service hochgeladen worden, in dem es darum ging, wie die Flugzeugentführer überhaupt in die USA gekommen waren. Nicht nur hatten alle diese Araber über Visa verfügt – und dies teilweise schon seit mehreren Jahren – der Haupttäter hatte sogar zwei Visa. Und zwei verschiedene Pässe.

»Na und?«, mailte JEdgarH. »Es ist nicht verboten, zwei Pässe zu besitzen.«

Die Website behauptete weiter, fünf der Entführer hätten bereits seit Jahren für die CIA gearbeitet. Daher die Visa. Wie so oft gab es allerdings keine Quelle. Das brauchte er also gar nicht erst an JEdgarH weiterzuleiten. Manuel holte Luft und stand nun endlich auf. Der Bildschirm schwankte ein wenig. Oder schwankte er selbst? Sein Blick fiel auf den stummen Fernsehbildschirm, auf dem noch immer CNN lief. Doch statt einer gefärbten Blondine war nun ein grauhaariger Uniformträger zu sehen. Der Präsident.

CNN schien mit der Ankunft des Präsidenten die Anzahl der Fahnen im Studio verdoppelt zu haben. Der Präsident sprach wie immer stockend und starrte dabei mit glasigen Augen an der Kamera vorbei ins Leere, als habe er nicht alle Steine auf der Schleuder. Vermutlich stand dort eine barbusige Blondine, die Schilder mit seinem Text hochhielt. In Großbuchstaben.

»Wir werden die Terroristen strecken, äh, zur Strecke bringen, einen nach dem anderen«, sagte der Präsident. »Als Erstes Osama Bin Laden, tot oder lebendig. Dann all jene, die nicht für uns sind. Denn wer nicht für uns ist, ist gegen uns.« Dann machte er eine Kunstpause. »Auf unsere Haltung kommt es an. Denn wir …«, noch eine Kunstpause, »haben ein kataly … katastrisch, äh, katalysch… wir haben das neue Pearl Harbor erlebt. Das Pearl Harbor unserer Generation.«

Danny Patrick Rose

Danny Patrick Rose schreibt unter anderem Namen für die US-Fernsehshows Real Time und die Daily Show. Er begann als Stand-up-Comedian in seiner Heimatstadt Salt Lake City, studierte Civic Disobedience am City College in New York und arbeitete dann als Coach für das Baseballteam Boston Red Sox, Pizzalieferant für Tupac Shakur und Faktenchecker beim Council of Foreign Relations. Danach eröffnete er eine Stripbar in New Orleans. Als ihn das FBI als Person of Interest suchte, tauchte er in New Mexico unter, wo er bewusstseinserweiternde Kekse mit Kakteen kreuzte. Nach einem Burnout reiste er nach Indien, die Mongolei und Liechtenstein und verbrachte ein Jahr in London als Liebhaber der Duchess of York. Zurück in den USA, konzipierte er Sitcoms unter dem Pseudonym Tucker Carlson. Heute lebt der Autor des Politfachblatts The Onion und Hobbyveganer im Brooklyner Stadtteil Crown Heights mit seiner dreibeinigen Katze Petunia und zwei Piranhas. Die Verschwörung ist sein erster Roman. Er beruht auf einer wahren Geschichte.
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Ein Kommentar

  1. Meine Fresse, was für ein Groschenroman. Bekommt man dafür Geld wenn man das Online stellt oder wie kann man sich für diese Veröffentlichung sonst rausreden?

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