Afghanistan: Vergessene Verbrechen

Afghanische Flagge im Wind
DQttwo, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Seit Ukraine und Nahost steht die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofes wieder im Vordergrund. Der Krieg in Afghanistan machte allerdings schon vor Jahren deutlich, wie unglaubwürdig westliche Institutionen geworden sind.

Der Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofes gegen Israels Premier Benjamin Netanjahu und dessen Ex-Verteidigungsminister Yoav Gallant bestehen weiterhin – und sorgen immer noch für heftige Diskussionen in Deutschland und anderswo. Nun hat sich Den Haag in Sachen Afghanistan auch wieder zu Wort gemeldet. Es gibt neue Haftbefehle. In diesem Fall geht es um den obersten Führer der Taliban, Haibatullah Akhundzada, sowie den höchsten Richter des Regimes, Abdul Hakim Haqqani. Konkret wird ihnen aufgrund der Repressalien, die im Land seit der Rückkehr der Extremisten bestehen, die systematische Verfolgung und Unterdrückung von Frauen, Mädchen sowie Minderheiten, die nicht den Gender-Normen der Taliban entsprechen, vorgeworfen.

All das mag gut und richtig sein, doch zugleich ist es auch zutiefst heuchlerisch. Denn warum sollten die Taliban überhaupt erst eine Institution, die gegen westliche Kriegsverbrechen in Afghanistan wenig bis gar nicht vorgegangen ist, überhaupt erst anerkennen? Die strafrechtliche Verfolgung krimineller US-Soldaten wurde de facto schon längst eingestellt. Jegliche Versuche wurden von Anfang an seitens der USA behindert. Bis heute gibt es keinen einzigen Haftbefehl gegen US-Staatsbürger, die sich in Afghanistan im Laufe des „War on Terror“ an zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt haben.

Der Fall Abdul Wali

Für viele ist der Krieg in Afghanistan vorbei. Besonders in den westlichen Ländern, die zum dortigen Chaos beigetragen haben, will kaum jemand über die eigene Verantwortung für das Blutvergießen sprechen. Dabei waren US-Truppen und ihre NATO-Verbündeten für zahllose Kriegsverbrechen verantwortlich. Einige davon wurden in den letzten Jahrzehnten aufgedeckt, viele andere sind in Vergessenheit geraten – oder wurden nie ans Licht gebracht.

Die heutige Straflosigkeit ist kein neues Phänomen.  Kaum ein Fall zeigt das deutlicher als die Folter und Ermordung eines Afghanen namens Abdul Wali.

Schauplatz des Verbrechens war der Distrikt Pech im Nordosten Afghanistans. Die Region beheimatet auch das berüchtigte Korengal-Tal, das durch Dokumentarfilme wie Restrepo und Korengal Eingang in die US-Popkultur gefunden hat. Zehn Kilometer lang und fünf Kilometer breit, steht das Tal sinnbildlich für das amerikanische Scheitern in Afghanistan. Bereits 2013 zogen sich die US-Truppen aus der Region zurück – sehr zur Freude vieler Einheimischer. Die Menschen, mit denen ich während der US-Besatzung sprach, machten keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegenüber den ausländischen Besatzern und zeigten mir stolz die verlassenen Militärstützpunkte.

„Es ist gut, dass diese Unterdrücker weg sind. Gott ist groß“, sagte mir ein junger Mann im Pech-Tal, als ich 2021 die Gegend besuchte. Das war kaum überraschend: In der Provinz Kunar gehörten Bombardierungen und brutale nächtliche Razzien durch US-Einheiten zum Alltag. Der amerikanische Journalist Wesley Morgan berichtete damals eindrucksvoll aus der Region. Eingebettet in US-Truppen interviewte er Soldaten vor Ort und dokumentierte, wie amerikanische Einheiten nach Taliban-Angriffen oft ziellos gegen Zivilisten vorgingen – mit Razzien, Folter und Bombenangriffen auf Grundlage fragwürdiger Geheimdienstinformationen. In echter Wildwest-Manier stürmten manche Soldaten den Basar von Asadabad, andere brüllten die Bewohner an und gaben Befehle – meist ohne Übersetzer. „Ein kleiner Junge hat sie ausgelacht“, erinnerte sich Morgan. Für viele Afghanen war das Verhalten der Amerikaner selbst die beste Rechtfertigung für den Widerstand.

Einer der schockierendsten Fälle amerikanischer Übergriffe ist der von David Passaro, einem ehemaligen CIA-Agenten, der offenbar Freude daran hatte, sogenannte Terrorverdächtige mit brutalen Methoden zu „verhören“. Eines seiner Opfer war Abdul Wali – ein angesehener Landwirt aus der Region, den Passaro im Juni 2003 festnahm, folterte und letztlich ermordete. Wali hatte sich auf Anraten des Provinzgouverneurs Said Fazal Akbar freiwillig bei den US-Truppen in der Provinzhauptstadt Asadabad gestellt, um seinen Namen von dem Vorwurf zu reinigen, für Raketenangriffe auf den Stützpunkt verantwortlich gewesen zu sein. Stattdessen wurde er festgenommen und tagelang verhört.

Während seiner Haft wurde Wali schwer misshandelt. Passaro – ein ehemaliger Army Ranger, der nun für die CIA arbeitete – leitete die Verhöre. Zeugen sagten aus, dass er Wali mit einer schweren Taschenlampe schlug, ihm mit Kampfstiefeln in die Leistengegend trat und ihn systematisch um Schlaf, Essen und Wasser brachte. Wali erlitt schwerste Verletzungen, unter anderem vermutlich einen Beckenbruch, der ihn daran hinderte zu urinieren. Am vierten Tag seiner Haft starb er.

Passaros eiskalte Rechtfertigung: „Ich wurde nicht angeheuert, um nett zu diesen Terroristen zu sein.“

Die Nachricht von Walis Tod verbreitete sich schnell in der Provinz. Laut Aussagen von US-Militärs galt Passaro als Einzelgänger, den selbst seine Kollegen ablehnten. Für viele Afghanen in der Provinz Kunar aber waren Männer wie er keineswegs die Ausnahme, sondern eher die Regel. In den USA war Passaro (bis heute!) der einzige CIA-Agent, der im Rahmen des „War on Terror“ für Kriegsverbrechen angeklagt wurde. Da keine Autopsie durchgeführt worden war, konnte man ihm jedoch nur Körperverletzung, nicht aber Mord nachweisen. 2006 wurde er wegen schwerer Körperverletzung verurteilt. Das Strafmaß: acht Jahre und vier Monate. Später wurde es auf sechs Jahre und acht Monate reduziert.

Heute ist Passaro ein freier Mann. In einem Interview 2015 erklärte er, die Anklage gegen ihn sei politisch motiviert gewesen – er sei nach dem Abu-Ghuraib-Skandal im Irak zum Sündenbock gemacht worden. Bis heute zeigt der Mörder keine Reue. Im Gegenteil: Passaro behauptet, lediglich Befehle befolgt zu haben. „Mann, ich wurde nicht eingestellt, um nett zu Terroristen zu sein. Ich war da, um den Job zu erledigen“, sagte er in seinem damaligen Interview.

Laut dem ehemaligen Gouverneur von Kunar, Said Fazal Akbar, war die Ermordung des unschuldigen Abdul Wali durch Passaro ein entscheidender Moment, der den Rückhalt der Taliban in der Region massiv gestärkt hat.

Emran Feroz

Emran Feroz arbeitet als freier Journalist mit Fokus auf Nahost und Zentralasien, unter anderem für Die Zeit, taz, Al Jazeera und die New York Times. Er berichtet regelmäßig aus und über Afghanistan und den US-amerikanischen Drohnenkrieg und ist der Gründer von „Drone Memorial“ (www.dronememorial.com), einer virtuellen Gedenkstätte für zivile Drohnenopfer.
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10 Kommentare

  1. Solange Mileikowski und andere Kriegsverbrecher in westlichen Hauptstädten willkommen sind, kann man auf den Internationalen Strafgerichtshof gerne verzichten. Der Wertlos Westen steht ohne Kleider da. Diese Institutionen werden selektiv benutzt um Antiwestliche Gegner zu Fall zu bringen. Das Problem ist das der Westen mit zweierlei Maß misst.

  2. Der Wertewesten hat kein Maß, nur Willkür nach eigenem Gutdünken.
    Kann auf den Müllhaufen der Geschichte. Demnächst in diesem Theater der Menschheit.

  3. Haben die USA sich halbwegs ernsthaft an einem Nation-building versucht? Wir in D wurden mit dem Versprechen in den Krieg gelockt, dass man dort nur ganz kurz einmarschieren, Bin Laden verhaften und dann wieder abziehen werde. Wofür die rot-grüne Regierung dann sogar eine satte Mehrheit der Bervölkerung hinter sich hatte. Die lagen falsch, kann man so ja wohl feststellen.
    Bin Laden ist seit 2011 offiziell tot, aber es wurde nicht abgezogen. Warum? Mir war von Anfang an aufgefallen, dass die USA in dieser Zeit eine Neuordnung der Südflanke Russlands anstrebten (damals dokumentiert von Willy Wimmer). Wenn sie so etwas vorhaben, sind sie stets in der Region mit Militär präsent. 9/11 lieferte den Vorwand.

    Dann fragte ich so um 2007 herum, wo denn das Rohopium hingeht, das in Afghanistan produziert wird. Das Land hatte da 90 Prozent Weltmarktanteil. Ich kam zu dem Schluss, dass die USA daran verdienen. Und zwar, indem sie es in den Kosovo transportirerten und dort von der UCK in Europa verteilen ließen. War auf Telepolis drüben und das gehört nun zu den gesperrten Seiten. Wenig verwunderlich. Die NPD behauptete damals, die Polizei hätte Anweisung, Kosovaren nicht festzunehmen. Da kann sie ausnahmsweise recht gehabt haben.
    Dann war Afghanistan natürlich die ganz großre Geldwaschanlage, in der man mit Steuerfahndern nicht zu rechnen hatte. Wurde genutzt.
    Noch eins: die Taliban, die die Regierung gestürzt haben, waren vom Iran unterstützt. Hier die Taliban-Führer mit den Bildern der iranischen Führer hinter sich:
    https://overton-magazin.de/hintergrund/politik/zwischen-engagement-und-hilflosigkeit/

    Zu der Zeit äußerten sie sich auch moderat, sie wollten die schiitischen Hazara schonen und überhaupt eine Regierung für alle Afghanen sein. Dann aber, nachdem sie gewonnen hatten, kam aus Pakistan der Haqqani-Clan zurück. Diese stellen nun den obersten Richter, der hier verurteilt wurde. Außerdem offenbar den Innenminister, in dessen Haus der Al Quaida Gründer Al Zawahari auf dem Balkon stand und dort erschossen wurde. Eigentlich war er Gründer und Führer der Al Quaida, Bin Laden hat ihn nur deswegen ersetzt, weil er mehr Geld hatte. Auf deutsch gesagt.
    Die Haqqanis sind äußerst brutal und bereit, ihre Macht mit äußerster Gewalt abzusichern. Außerdem haben sie keinerlei Berührungsängste mit Terroristen. Könnte es sein, dass es da bei den Taliban zwei Fraktionen gibt, die Moderaten, die den Sieg errangen und die Haqqanis, die jetzt das Land ins Mittelalter zurück versetzen?
    Das wäre mal interesant.

    1. Könnte es sein, das der Ultrazionist Arthur-C nur Müll absondert? In Afghanistan gibt es nicht nur die Taliban- Bewegung. Auch noch Warlords, die auf ethnischer Basis ihr Clangebiet beherrschen. Und natürlich auch ausländische Interessen. So haben Indien und Israel Afghanistan als Tummelplatz für ihre Antipakistanischen Terroristen ausgewählt.
      Im 19.Jh. haben die Briten das Stammesgebiet der Pashtunen teilweise erobert. So kommt es, das ein Teil dieser Volksgruppe in Afghanistan, der andere in Pakistan lebt. Beide Gruppen sind sich näher als den Zentralregierungen. Im Westen Afghanistan wurde die Region um die Stadt Herat von den Briten im britisch- persischen Krieg erobert und Afghanistan als „Entschädigung“ geschenkt. Die Bewohner dort haben aber nicht nur sprachlich und kulturell eine engere Beziehung zum Iran als zu Kabul.
      Die jetzige Regierung in Kabul hat nicht nur die diversen Gruppen im Inland und die Geheimdienst- und Terroraktivitäten ausländischer Staaten zu berücksichtigen. Auch die von den NATO-Besatzern bewusst organisierte Kolonialwirtschaft muss in eine Wirtschaft für Afghanistan umgewandelt werde. Und das bei totaler Blockade und Sanktionen des „Westens“.
      Die „Haqqanis“ sind Anhänger des Warlords Hekmatyar. Dieser wurde von der CIA an den Mossad „übergeben“. Seine terroristischen Aktivitäten richten sich jetzt gegen Pakistan. Das beeinträchtigt natürlich das Verhältnis der beiden Regierungen.
      Die in Afghanistan unter NATO- Schutz angebauten Drogen sind nicht nur über Camp Bondsteel im Kosovo vertrieben worden. Ein Teil versuchten die westlichen „Dienste“, darunter der BND, über die nördlich von Afghanistan gelegenen Stans nach Russland zu schmuggeln.
      Einen anderen Teil haben schwer bewaffnete Drogenbanden mit militärischer Hilfe der Briten in den Iran gebracht. Bei den schweren Grenzgefechten sind Tausende iranische Polizisten, Grenzsoldaten und
      Militärs getötet worden. Wenn die Drogenbanden zu verlieren drohten, hat die britische Armee mit Artillerie, Kampfhubschraubern… ausgeholfen.
      Die Briten haben schließlich die Expertise schlechthin, wie man Gesellschaften mittels Opium oder anderer Drogen destabilisiert und zerstört.

  4. “ sowie Minderheiten, die nicht den Gender-Normen der Taliban entsprechen, vorgeworfen.“

    Ei der Daus! Am Ende behaupten diese steinzeitlichen Hinterwälder noch, es gäbe biologisch nur zwei Geschlechter? Damit wären sie ja wissenschaftlicher als der ganze westliche „Bildungsapparat“! 😉

    Ansonsten… wer soll diesen „Gerichtshof“, der nicht grundlos zynisch auch als „Bimbo-Gericht“ verspottet wurde, weil er lange Zeit praktisch nur afrikanische Bürger kriminalisierte, noch ernst nahmen, nach der Nummer mit den Haftbefehlen gegen Putin und die Kinder-Ombudsfrau wegen angeblicher „Deportation von Kindern nach Russland“, die es nie gegeben hat?

    Spätestens da hätte man ja mal fragen können, ob es denn in der Ukraine keine echten russischen Kriegsverbrechen gegeben hat? Was ist mit Butscha? Das wäre doch die Chance gewesen! Eine internationale Untersuchung, Spurensicherung, Zeugenbefragungen…. das Gebiet war doch wohl voll zugänglich!

    Hat es nicht gegeben! Noch nicht mal eine ukrainische Untersuchung dazu gab es, erst recht keine internationale! Hat dieses bekannteste aller Verbrechen seit Babyn Jar etwa gar nicht stattgefunden? Oder waren die Täter andere? Etwa Leute, die bis heute die Traditionen der Mörder von Babyn Jar hochhalten – und das waren ja bekanntlich keine Russen?

    Man weiß ja so wenig! Und der Gerichtshof will es wohl auch gar nicht wissen….

      1. Danke!

        Ja, den Artikel kenne ich. Und meine „Fragen“ waren auch eher rhetorischer Natur. Eben an die Adresse der „Wahrheitsbesitzer“ in Politik und Medien, die zwar ständig „Butscha“ sagen, aber nichts darüber wissen, und wenn, dann wissen sie wohl nur, daß das ein Fake Kiews war, das erhalten bleiben muß.

        Das Massaker fand nicht statt – Punkt! Und die Toten, die man dort fand, waren Opfer der Banderisten, etwa der Sondertruppe der Nationalpolizei „Safari“, die ab dem 2. April, drei Tage nach Abzug der russischen Truppen, den Ort heimsuchte. Und das ist wörtlich zu nehmen, denn sie „säuberten“ den Ort von „russischen Kollaborateuren“, wie auf einer ukrainischen Website stolz berichtet wurde. Bekanntlich „fand“ man all die Toten dann ab dem 3. April 2022. Also einen Tag später…

        https://militaryland.net/ukraine/special-police-forces/safari-regiment/

        Die letzten Meldungen über die ukrainischen Untersuchungen berichteten von Exhumierungen (was dem Narrativ vom „russischen Frust-Massaker beim Abzug und den massenhaften Leichenfunden in den Straßen widerspricht) und daß fast alle von Artilleriegeschossen getötet worden waren. Also Opfer der ukrainischen Armee zur Zeit der russischen Besatzung Butschas waren.

        Dann wurden die Untersuchungen eingestellt, und ein paar Wochen später die dafür Verantwortlichen entlassen, darunter die ukrainische Generalstaatsanwältin. Der Vorwurf lautete „Kollaboration mit Russland“. Sie hatte(n) wohl Fakten ermittelt, die nicht paßten….

  5. Was ist mit dem Genozid in Gaza durch Israel? Wann werden diese NAZIZionisten endlich boykottiert und sanktioniert? Liefert Nazideutschland immer noch Waffen an sie? Die USA tut es, selbstverständlich, deren Land basiert ja auch auf einem Genozid.
    Tagtäglich werden unzählige Palästinenser auf der verzweifelten Suche nach essbarem massakriert, durch ISRAELISCHE ZIONISTEN.
    Nein nicht Juden, ZIONISTEN! Manche sind sicher auch Juden, aber nicht alle Juden sind Zionisten!
    Speziell Deutschland begeht ein Verbrechen dieses zu vermischen und jede Kritik als Antisemitismus zu kriminalisieren, fördert damit den Antisemitismus direkt, dabei ist die Mehrheit der zionistischen Regierung Israels NICHT semitisch, es sind Polen, Ukrainer und diverse andere Kolonisten!

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