Leichter als Luft, Folge 59 — Stimmungsumschwung

Berlin, Blick aufs Brandenburger Tor
Quelle: Pixabay

Ein erstaunlicher Stimmungsumschwung des Schlossherrn weckt das Misstrauen von Donna Fauna erneut. Dafür kommt zu einem umso aussichtsreicheren Kontakt mit dessen jüngerem Bruder.

 

Die Tür flog auf und ein glänzend aufgelegter Tädeus von Tadelshofen betrat schwungvoll den Raum. Er klopfte seinem Bruder auf die Schulter und lobte, dass dieser in seiner Abwesenheit das Abendessen eingeleitet und ihn als Gastgeber vertreten habe.

Sodann ging er zum Beistelltisch, schenkte sich einen Rotwein ein und machte, als er den edlen Tropfen mit der Nase geprüft hatte, ein skeptisches Gesicht. Er schnüffelte dem Bouquet hinterher, nahm einen Schluck und fragte dann vorwurfsvoll seinen jüngeren Bruder:

»Irinäus, mein Lieber! Hast Du die Getränke nicht geknattert?«

Der jüngere Tadelshofen gestand, dies vergessen zu haben.

Tädeus tat gutmütig empört: »Das geht doch nicht! Werter Bruder, Du weißt: Die Tischsitten von Schloss Montgolfière verlangen äußerste Sorgfalt. Wir wollen unseren Gästen doch keine ungeknatterten Getränke vorsetzen!«

Die anderen schauten sich einmal mehr fragend an, als der Freiherrn von Tadelshofen ein Gerät in Betrieb setzte, das Fauna zuvor für eine einsame Lautsprecherbox gehalten und, geblendet vom Angebot exquisiter Getränke, nicht weiter beachtet hatte.

»Dieses ist ein Tesla-Toaster. Marke Eigenbau!«, erklärte der Schlossherr, mit unverkennbarem Stolz.

Er stellte eine Flasche Rotwein vor diese Apparatur und aktivierte sie. Das Gerät schien daraufhin Lichtimpulse abzugeben und machte laute, knatternde Geräusche. »Hochvoltige Blitzentladungen« seien das, erklärte der Freiherr, die eine Art elektromagnetischer Schallwellen erzeugten. Deren Wirbel gingen in Resonanz mit allen materiellen Strukturen, sofern diese – wie übrigens jener grandiose Château BRANAIRE-DUCRU von 2009 – einen Empfänger für diese Wellen hätten. Man könne sich das so vorstellen, als werde ein Molekül-Akku aufgeladen, indem der Wein das Licht der Blitze absorbiere. Die Energieübertragung verändere die Konfiguration der Moleküle und das äußere sich in Form einer erhöhten Energiespeicherung. Dies alles verbessere die Rauschwirkung erheblich.

»Und vorher war der Molekülakku von Ihrem grandiosen Château BRANAIRE-DUCRU leer, oder wie?«, stichelte Donna Fauna. Die wünschte in dem Moment, wenigstens so viel Ahnung von Naturwissenschaften wie von gutem Wein zu haben, um die gesammelten Behauptungen des Freiherrn verstehen und gegebenenfalls widerlegen zu können.

Stattdessen gesellten sich Pavel Berger-Grün, Jonathan und KQ zum Schlossherrn und ließen sich eingehend dessen »Tesla-Toaster« erklären.

Dem Kanarienquex schienen Tädeus von Tadelshofens Ausführungen von selbsterklärender Logik. Er warf nur gelegentlich ein »Des is klar« und »Logo!« dazwischen. Pavel Berger-Grün lauschte konzentriert, ohne erkennen zu lassen, was er von der Sache hielt. Jonathan interessierte sich vornehmlich für die Rauschwirkung, die ein hochvoltiger Blitzbeschuss einer Flasche exquisiten Weins zu verleihen versprach. Tädeus von Tadelshofen stellte Erfreulichstes in Aussicht. Sein Vorschlag, die Wirkung des geknatterten Château BRANAIRE-DUCRU im allgemeinen Selbstversuch zu testen, wurde begeistert angenommen.

Fauna war am Tisch sitzen geblieben, wie auch Pedrillo Caldez, der an dem Bohei um des Freiherrn technischen Klimbim desinteressiert schien. Fauna gab sich Mühe, ebenfalls einen gleichgültigen Eindruck zu machen. Aus rein fachlichem Interesse holte sie sich dann aber doch ein Glas dieses geknatterten Spitzenweins, zumal sie die perfekte, buddhistische Ruhe dieses Yogamenschen momentan schlecht aushalten konnte.

Denn Fauna war aufgewühlt.

Was sie umtrieb, war dabei nicht nur die Frage nach der physikalischen Glaubwürdigkeit der freiherrlichen Ausführungen. »Geknatterter Wein« gehörte zu der Sorte techno-esoterischer Spleens, die sie guten Gewissens im Reich des Ungefähren belassen konnte. Hauptsache, dieser Château Irgendwas stellte sich nicht als ein rechter Sauerampfer heraus.

Was Fauna irritierte, war der zuvor stattgehabte, radikale Stimmungsumschwung des Schlossherrn. Schier entsetzt und leichenblass hatte der ehrenwerte Gastgeber sich bei Nachricht der französischen Terrorereignisse fluchtartig in seine Gemächer zurückgezogen. Bestens aufgelegt war er eine knappe Dreiviertelstunde darauf hereingeschneit gekommen.

Was mochte Tädeus von Tadelshofen in der Zwischenzeit so überaus Aufmunterndes erlebt haben? Was konnte er über das Attentat zu Paris in Erfahrung gebracht haben, das zu einer so grundgreifenden Aufhellung seiner Stimmung geführt haben sollte?

Als erfahrene Drogenspürhündin hatte Donna Fauna sofort gewittert, dass der Freiherr seinem Gemüt durch die Einnahme von Substanzen auf die Sprünge geholfen hatte. Fauna tippte auf Kokain, kombiniert mit weiteren Aufputschmittelchen und einem angstlösenden Muskelrelaxans.

Fauna war, was das anbetraf, Glashausbewohnerin genug, um nicht gleich mit innerlichen Steinen nach dem Freiherrn zu werfen. Dennoch ließ ihr diesbezüglicher Verdacht, in Kombination mit der enthusiastischen Präsentation seines »Tesla-Toasters«, den Gastgeber nicht unbedingt in einem seriösen Licht erscheinen. Der Typ war generell ziemlich drauf, schätzte sie die Sachlage ein.

KQ und Jonathan Rischke hatten sich währenddessen in ein naturwissenschaftliches Fachgespräch mit Tädeus von Tadelshofen verstrickt, aus dem Fauna nur Wortfetzen wie »freie Energie«, »Bionen«, »Raumenergie« und immer wieder die Namen Nikola Tesla, Viktor Schauberger und Wilhelm Reich heraushörte.

Pedrillo saß weiterhin in vollendeter Gleichgültigkeit am Tisch. Fauna hatte inzwischen einen Joint fertiggebaut. Als sie sich gerade fragte, ob neben dem Konsum frisch »geknatterten« Alkohols auch das Rauchen ungeknatterten Marihuanas erwünscht sei, sah sie eine Türe offen stehen, die zu einem kleinen Balkon führte. Fauna ging hinaus.

Sie fand auf diesem mit gußeisernen Geländern umgebenen Balkon den rauchenden Irinäus von Tadelshofen vor.

»So alleine in der Kälte, der junge Herr?«, eröffnete Fauna das Gespräch: »Haben Sie wenigstens ein Feuerchen, uns zu wärmen?« Sie hielt ihm den Joint hin.

»Was denken Sie über das, was drinnen besprochen wird?«, wollte der jüngere Tadelshofen wissen, nachdem er Donna Fauna Feuer gegeben hatte: »Ziemlich fantastisches Zeug, was?«

Fauna antwortete, sie habe sich seit frühester Schulzeit der Welt der Buchstaben verschrieben. Text sei der Rohstoff ihres Werdens. Im Bereich der Geisteswissenschaften sei sie wahllos interessiert an Themen der Literatur, Geschichte, Philosophie und Soziologie, der Religion und der politischen Theorie. An der Uni habe sie von der Völkerwanderung der Goten über die Rhetorik Ciceros, von der Sozialgeschichte des Baseballs und die Philosophie des Analverkehrs im Buddhismus bis hin zur Wirtschaftsgeschichte des Warenhauses und britischer Währungspolitik in den Dreißigerjahren alle erdenklichen Kurse belegt. Ihre Verweigerung jeglicher Spezialisierung habe die Professoren zur Verzweiflung getrieben.

Auf der anderen Seite sei sie seit je eine Mathe-Legasthenikerin schlimmster Sorte. In der Grundschule habe sie einmal als Mathefan begonnen und eine Eins im Jahreszeugnis gehabt. Später sei sie als Schülerin mit einer Totalblockade in jeglicher Spielart der Naturwissenschaften geschlagen gewesen. In Mathematik, Chemie, Biologie und Physik habe sie gleichermaßen miserabel abgeschnitten. Es werde sogar immer schlimmer mit ihr, klagte Fauna. Neulich habe die Sicherheitsabfrage einer Website von ihr wissen wollen: »6x?=30«? Sie habe ewig herumrätseln müssen, bis sie sich das richtige Ergebnis erdackelt hatte.

Kurz und gut, sie sei sich der Begrenzungen ihres Wissens bewusst. Der Name Nikola Tesla sei ihr vage erinnerlich. Von einem Viktor Schlauberger habe sie überhaupt noch nie gehört. Was Wilhelm Reich angehe, habe sie zwar einiges gelesen, von ihm und über ihn. Sie fühle sich aber nur imstande, sinnvolle Aussagen über den Psychologen, den Sexualwissenschaftler und den revolutionären Politiker Wilhelm Reich zu treffen. Über dessen naturwissenschaftliche Forschungen ein Urteil abzugeben, müsse sie mangels eigener Fachkenntnis wiederum ablehnen.

»Und Sie glauben nicht«, schloss Fauna mit leidendem Unterton, »welche Erleichterung es mir in meinen alltäglichen Facebook-Schlachten bedeuten würde, wollten fachfremde Laien in Fragen der Geschichte eine ähnliche Zurückhaltung an den Tag legen wie ich im Bereich der Naturwissenschaften.«

Er sei selbst seit jeher Kulturmensch gewesen, stimmte Irinäus von Tadelshofen enthusiastisch zu, und geistig in der Welt des Theaters, der Lyrik und der Belletristik beheimatet. Als Kulturkritiker und Lifestylekorrespondent leiste er sich bestenfalls gelegentliche Ausflüge in den Bereich des zeitgeschichtlichen Kommentars. Deshalb interessiere ihn, im Gegensatz zur technischen Debatte, die sein Bruder da gerade führe, brennend, was sie, Fauna, über den Psychologen, den Sexualwissenschaftler und den revolutionären Politiker Wilhelm Reich zu sagen habe.

»Sehen Sie, Irinissimo«, hob Fauna an, die beschlossen hatte, mit sämtlichen von Tadelshofens eisern beim ›Sie‹ zu bleiben, sich aber gleichzeitig die größten Freiheiten mit deren Namen zu erlauben: »Der klassische Marxismus hat den menschlichen Körper wie einen Klumpen Materie behandelt.«

Der Arsch etwa, echauffierte sie sich, sei bei Marx und Engels lediglich in seiner Potentialität als Träger von Furunkeln anerkannt und damit reichlich unterbewertet gewesen. Der weitgehend frigide Lenin habe später davon gefaselt, dass Sex in einer befreiten Zukunft so unaufregend sein werde, wie ein Glas Wasser zu trinken – was von einem nicht sehr ambitionierten Orgasmus Lenins zeuge. Erst recht die heteromantischen Schriften der Aleksandra Kollontai, jener sowjetischen Frau Dr. Sommer, hätten sie, Donna Fauna, tödlich gelangweilt.

Wilhelm Reich dagegen! Der wilde Meisterschüler Sigmund Freuds! Dessen radikale Vorstöße in das tiefste Dunkel des Biologischen! Die überfällige Anbindung neurotischer Phänomene an die Produktionsverhältnisse der Industriegesellschaft! Reich habe endlich damit Schluss gemacht, alles Leiden an sich selbst allein in der Kindheit des Betroffenen zu verorten. Reich sei es gewesen, der die Psychoanalyse zu einer gesellschaftskritischen Wissenschaft habe werden lassen.

Diese kühnen Schritte zu unternehmen, sei ungeheuer verdienstvoll gewesen – jedoch so kühn, dass die Rache des Status quo in all seinen Facetten verheerend ausgefallen sei:

»1933, 1934, das waren keine guten Jahre für Wilhelm Reich, wissen Sie …«, referierte Donna Fauna: »Erst belagerte die SA seine Berliner Wohnung, die Nazipresse trommelte gegen ihn, er wurde gesucht und musste nach Österreich fliehen. In seiner Wiener Heimatstadt wollten die alten Kollegen, den Anweisungen Sigmund und Anna Freuds folgend und aus Angst vor den Deutschen, nichts mehr mit ihm zu tun haben. Reich flieht also weiter nach Dänemark.«

Dort angelangt, sei er aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und zum Feind des Marxismus erklärt worden. Wiederum auf Betreiben gegnerischer Psychoanalytiker aus Dänemark ausgewiesen, sei Reich nach Schweden geflüchtet. Aus Schweden stehenden Fußes ausgewiesen, sei er nach Norwegen geflüchtet. Dort sei er Opfer einer polizeilichen Hausdurchsuchung geworden, kurz: Wilhelm Reich habe es offensichtlich vermocht, einer geradezu rekordverdächtigen Anzahl einflussreicher Strömungen und Personen so wirksam auf die Füße zu treten, dass sie in ihm einen Todfeind sahen.

Übrigens habe auch Wilhelm Reich der Schimäre einer vermeintlichen ›Normalität‹ hinterhergejagt und sexuelles Erleben ziemlich krude in vermeintlich gesunde oder gestörte Phänomene eingeteilt. Trotzdem seien viele von Reichs Konzepten und Begriffen bis heute sehr brauchbar. Etwa die ›orgiastische Potenz‹, schwärmte Donna Faua. Die habe Wilhelm Reich sehr hübsch definiert als die Fähigkeit, sich dem Strömen der biologischen Energie ohne jede Hemmung hinzugeben, und zwar bis zur vollständigen Entladung aller aufgestauter Sexualerregung durch unwillkürliche, lustvolle Kontraktionen des Körpers.

In seiner Zeit als Mitglied der KPD habe Reich des Weiteren seine Verdienste als revolutionärer Politiker gehabt. Die Sexpol-Bewegung der frühen Dreißigerjahre etwa sei eines der fantastischsten Massenexperimente gewesen, die es jemals gegeben habe.

»40 000 fickfreudige Jungkommunisten sind etwas Großartiges, das werden Sie zugeben, Irinitrius«, rief Fauna begeistert aus.

Irinäus von Tadelshofen kam aber nicht dazu, irgendetwas zuzugeben, weil Donna Fauna in ihrem Monolog ungebremst fortfuhr, dass nämlich das Lustigste daran gewesen sei, dass in Sexpol auch ein Haufen junger Nationalsozialisten zu Gange gewesen sei:

»Wissen Sie, Irinolf: Wilhelm Reich war ein Forscher durch und durch. Wilhelm Reich wollte verstehen! Er studierte die Reden und die Literatur des jungen Faschismus. Und er saß mit Schusswaffe in seiner Berliner Künstlerkolonie, einen Angriff der SA erwartend. Seine Untersuchungen über die Massenpsychologie des Faschismus sind ausgesprochen lesenswert. Sie zeigen allerdings erste Anzeichen einer reaktionären Wendung in seinem Denken …«

Reichs Flucht aus Europa habe schließlich nicht nur in die USA, sondern von der Geistes- zur Naturwissenschaft geführt. Das sei aus ihrer Sicht ein eindeutiger Abstieg gewesen und sie persönlich könne Wilhelm Reich ab dem Moment, wo er vom Psychologen zum Naturwissenschaftler mutiere, nicht mehr folgen. Da beherrsche sie jene zwanghafte Abwehr, die sich gegen alles naturwissenschaftlich-technische Wissen und Denken richte.

Fauna laberte den jüngeren Bruder des Schlossherrn zu Montgol­fière nicht nur ohne Punkt und Komma zu, sondern baggerte ihn auch mit vollendeter Dreistigkeit an, währenddessen. Zu ihrer freudigen Überraschung zeigte sich Irinäus diesen Avancen aufgeschlossen.

Leider setzte, als es richtig interessant zu werden versprach, ein Schneeregen ein, der die beiden ins Gebäudeinnere zurückzwang.

Dort hatte der Abend in der Zwischenzeit Fahrt aufgenommen.

Florian Kirner

Florian Kirner, geb. 1975, ist unter dem Namen Prinz Chaos II. als Liedermacher und Kabarettist bekannt. In Südthüringen entwickelt er seit 2008 ein Kultur- und Gemeinschaftsprojekt auf Schloss Weitersroda . Zuvor hat er an der Universität zu Köln Anglo-Amerikanische Geschichte, Japanologie und Neuere und Mittelalterliche Geschichte studiert, sowie Internationale Beziehungen an der Sophia-Universität Tokio. 2013 verfasste er mit Konstantin Wecker einen „Aufruf zur Revolte“. Als Journalist schrieb er lange für die junge Welt. Seit dessen Gründung unterstützt er den politischen Blog Rubikon.

Das Autorenfoto wurde von Eva Siebert gemacht.
Mehr Beiträge von Florian Kirner →

Ähnliche Beiträge:

2 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert