
Zwei Jahrzehnte nachdem der Elektro-Club ihrer Jugend von der Polizei geräumt worden war, werfen neue Dokumente ein völlig anderes Licht: nicht nur auf das Ende von Shivas Paradize. War die Heimat der Technokids auf Betrug gebaut?
Lola hatte Germaine Gamma seit Wochen auf Jonathan Rischke angesetzt. Die sollte alles herausfinden, über dessen neue Freunde in diesem Brandenburger Bonzenclub und vor allem über die frühere Connection mit M-Square.
Das passte doch alles nicht zusammen!
Wenn Rischke mit den Finnen einen Deal gemacht hatte, um das Gelände von Shivas Paradize zu verhökern, dann wäre er zehn Jahre später wohl kaum so dumm gewesen, sich auf diese Balkonkampagne einzulassen und M-Square öffentlich zu attackieren.
Soviel immerhin stand fest: zur Zeit der Räumung von Shivas Paradize gehörte das alte Kombinat dem finnischen Immobilienfonds M-Square – und die hatten es aus irgendeinem Grund für nötig gehalten, mit Jonathan Rischke persönlich über die Modalitäten der Übergabe zu verhandeln. Dass der aber zu Beginn seines wundersamen Aufstiegs in der Lage gewesen war, sich eine solche Liegenschaft aus eigener Kraft zu sichern, schien Lola unwahrscheinlich.
Die findige Germaine Gamma förderte täglich neue Fakten zu Tage, die die eigentumsrechtliche Historie des alten Kombinats und Jonathan Rischkes Rolle darin endlich etwas klarer werden ließen. Und was Lola Mercedes nun von ihrem süßen Recherchemonster zu hören bekam, hatte es in sich:
Nach der Wende war der zuvor volkseigene Betrieb »Roter Ziegel« demnach stillgelegt und in die Bestandslisten der »Treuhandanstalt« übertragen worden, jener Behörde, die eigens für die Privatisierung des ehemaligen Volksvermögens der DDR eingerichtet worden war.
Die Treuhand hatte dann lange und vergeblich versucht, für das Areal einen Käufer zu finden. Eher am Rande der Stadt gelegen und mit einigen, nur kostspielig zu sanierenden Altlasten ausgestattet, war das insgesamt gut zwei Hektar große Industriegebiet nicht gerade ein Filetstück gewesen.
Eine Gruppe abenteuerlustiger Goa-Leute um Jonathan Rischke und einen gewissen Thom Willbroox, der in Kreuzberg einen linksalternativen Sicherheitsdienst aufgebaut hatte, schien das Gelände irgendwann Mitte der Neunzigerjahre entdeckt zu haben. Die Treuhand hatte immer noch keinen Käufer gefunden und den bereits zunehmend verfallenden Gebäudekomplex auch nur sehr unzureichend gegen Eindringlinge gesichert. So wurde das heimliche elektronische Treiben über längere Zeit gar nicht bemerkt, zumal die Gruppe um Rischke und Willbroox mit äußerster Vorsicht vorging. Es schien niemals auch nur einen einzigen Flyer für Shivas Paradize gegeben zu haben. Die Mobilisierung erfolgte ausschließlich über Mundpropaganda in der Elektroszene.
Trotzdem wurde Shivas Paradize in kaum zwei Jahren zu einer der angesagtesten Locations der Stadt.
Von wem der Laden eigentlich betrieben wurde, dürfte den allermeisten Gästen unklar gewesen sein. Einige spekulierten, die findige Mama Valente mit ihrer mehr als kuriosen »Bar zum Krokodil« in direkter Nachbarschaft stecke auch hinter Shivas Paradize. Aber die Valente starb im Jahr 2000 und Shivas Paradize florierte unbeeinträchtigt weiter und übernahm augenscheinlich die Krokodilbar. Auf Nachfrage beim Thekenpersonal war von nebulösen »Shiva-Fürsten« als neuen Betreibern die Rede, die man selbst freilich nicht persönlich kenne.
In Wirklichkeit kannten fast alle Gäste die rätselhaften »Shiva-Fürsten« recht gut.
Jonathan Rischke trat allerdings wie ein stinknormaler Partygast in Erscheinung. KQ, Fauna und das Weazel lernten ihn kennen, wie sich Feiernde auf Goa-Raves zu dieser Zeit eben kennenlernten.
Willbroox machte derweil den Sicherheitschef, hatte dadurch maximale Kontrolle über das Geschehen, erschien den Besuchern aber als angestellter Security-Fuzzi und sprach seinerseits von den mysteriösen Shiva-Fürsten wie von fernen Halbgöttern, die auch er nur vom Hörensagen kenne.
Irgendwann musste man bei der Treuhand Wind von dem illegalen Treiben im alten Kombinat bekommen haben. In diesem Moment trat der angehende Rechtsanwalt Jonathan Rischke in Aktion. Er handelte mit der Treuhand einen Mietvertrag aus – zu durchaus günstigen Konditionen, denn potentielle Käufer des Areals standen auch weiterhin nicht in Aussicht. Eine von Rischke und Willbroox gemeinsam gegründete GbR war Vertragspartner der Treuhand. Besiegelt mit den Unterschriften dieser beiden schloss man diesen Vertrag ab.
Germaine Gamma hielt triumphierend eine Kopie des Vertrags in ihren in Händen, als Lola ihre Erzählung unterbrach: »Aber sobald die einen offiziellen Mietvertrag hatten, war doch auch der Betrieb von Shivas Paradize aktenkundig!«
In der Tat, führte die Gamma weiter aus, sei mit den geregelten Rechtsverhältnissen auch die illegale Phase von Shivas Paradize zu Ende gegangen. Rischke habe den Betrieb konsequent auf eine behördlich abgesicherte Grundlage gestellt, was die inzwischen enormen Umsätze wohl hergegeben hätten.
Man habe auch damit begonnen, ein jährliches Festival namens »Shiva Gate« auszurichten. Für dieses Event habe es dann erstmals Flyer und Plakate und sonstiges, ziemlich professionell aufgemachtes Werbematerial gegeben. Die GbR von Rischke und Willbroox habe ansonsten äußerst akkurate Steuererklärungen eingereicht.
Es läge sogar ein unterhaltsamer Schriftverkehr Rischkes mit der Bezirksdirektion der GEMA vor. Auch an den war Germaine Gamma gekommen und legte die Dokumente jetzt Lola vor, die kopfschüttelnd las, was sich Shivas Paradize und die GEMA so zu sagen gehabt hatten.
»Gastronomischer Eventbetrieb … Wiedergabe urheberrechtlich relevanter Musik … ist eine Pauschalvereinbarung anzustreben … Puhu, das sind ja einigermaßen unromantische Einblicke in das Innenleben eines Ladens, den Fauna und KQ bis heute als vermeintliche Revolutionszentrale der Elektrohippies hochhalten«, befand Lola.
Für die Gäste seien diese strukturellen Veränderungen eventuell nicht erkennbar gewesen, vermutete Germaine Gamma. Die »Shiva-Fürsten« hätten sich große Mühe gegeben, die Inszenierung des Ladens als restlos illegale, rebellische Gegenwelt nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern konsequent zu perfektionieren. Allerdings sei es wegen des vorsichtig einsetzenden Kommerzialisierungskurses rund um Shivas Paradize auch zu einigen Konflikten gekommen. Denn der Spagat zwischen radikaler Gegenwelt und den Realitäten eines professionellen Gastro- und Eventbetriebes sei immer schwieriger geworden, zumal die Treuhand 1999 endlich doch einen Käufer für das Areal auftreiben habe können – eben den finnischen Immobilienfonds M-Square.
»Nun sind Mietverträge aber bekanntlich auch bei einem Eigentümerwechsel bindend«, führte Germaine Gamma weiter aus: »Und der Mietvertrag, den Rischke mit der Treuhand ausgehandelt hatte, ist juristisch eine Festung. Eigentlich hätte M-Square auf absehbare Zeit keine Chance gehabt, die Shiva-Leute aus ihrem Paradies zu vertreiben. Es ist auch fraglich, ob die Finnen überhaupt eigene Pläne für das Gelände hatten. Ich glaube eher, die haben das Gelände als mittelfristig angelegtes Spekulationsobjekt gekauft und hatten von daher kein allzu großes Problem damit, dass dort ein Partyschuppen betrieben wurde. Außerdem hatte der Rischke noch einen weiteren Trumpf im Ärmel und der dürfte den Interessen von M-Square mehr als einen Nadelstich versetzt haben.«
Germaine Gamma machte eine gewaltige rhetorische Pause. Lola platzte vor Neugier und Ungeduld: »Was für ein Trumpf ist das gewesen, raus damit!«
»Nun, dieser Trumpf hieß: Bar zum Krokodil. Dieser Laden in der ehemaligen Betriebskantine des Kombinats ›Roter Ziegel‹ ist nämlich eigentumsrechtlich ein Fall für sich. Wie es aussieht, hat eine gewisse Maria Eduarda Valente die Wirren der Nachwendezeit und das vergebliche Suchen der Treuhand nach einem Käufer für das Gesamtobjekt genutzt und schon 1994 eine Art Separatverkauf durchgesetzt. Das hier ist die Kopie eines Kaufvertrags zwischen der Treuhand und Frau Valente. Die hat ihren Laden für damals 22 000 Mark gekauft. Das Teilgrundstück, ein winziger Bruchteil des Areals, wurde herausgemessen und im Kataster« – Germaine reichte Lola einen Auszug aus dem Grundbuch – »… mit Wegerechten und Überleitungsrechten und so weiter als eigenes Grundstück mit neuer Flurnummer eingetragen.«
»Aha. Und warum ist das der große Trumpf von Jonathan Rischke gewesen?«, wunderte sich Lola, die aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam.
»Deswegen«, erwiderte Germaine Gamma keck und zog ein weiteres Dokument heraus: Kopie eines Kaufvertrags, diesmal aus dem Jahre 2000, zwischen Frau Maria Valente und einem Herrn Jonathan Rischke! »Und deswegen!« Sie holte ein weiteres Schriftstück hervor und gab es der baffen Lola zur Lektüre.
Es war dies ein regelrechtes Protestschreiben von M-Square an einen Vertreter der Treuhand. Die Finnen beschwerten sich darin bitterlich, dass der ihnen von der Treuhand garantierte Verkauf des Gesamtgeländes offenkundig nur unvollständig zustande komme, da die »Enklave« der Frau Valente mitten auf dem Areal des ehemaligen Kombinats entgegen aller Absprachen an den derzeitigen Mieter des Grundstücks, Herrn Rischke, verkauft worden sei. Dieser aber weigere sich, zu verkaufen!
Das bisher im Eigentum der Frau Valente befindliche Grundstück sei noch dazu durch diverse Baulasten der angrenzenden Flächen, wie Wege- und Überleitungsrechte, abgesichert. Der neue Eigentümer Rischke, zudem Teilinhaber der GbR »Shivas Paradize«, sei dadurch in einer nahezu unüberwindlichen, strategischen Position. Die Investition des Fonds für das Areal, immerhin im sechsstelligen Bereich, sehe man dadurch maximal entwertet. Man fühle sich von der Treuhand hintergangen und so weiter und so fort.
Lola brummte der Schädel: »Ich verstehe das richtig, ja? Die Valente hatte das Grundstück mit ihrer Krokodilbar aus dem Geländekuchen des Kombinats herausgeschnitten und von der Treuhand gekauft. Die Treuhand hat dann das restliche Gelände an M-Square verkauft. Aber die Valente hat ihren Teil an den Rischke verscherbelt.«
Germaine Gamma: »Schon, aber die Valente hatte der Treuhand und M-Square vorher monatelang zugesichert, sie würde ihren Teil selbstverständlich auch an die Finnen verkaufen. Dadurch, dass sie das nicht gemacht, sondern den Deal für sage und schreibe 52 000 Mark mit Rischke abgeschlossen hat, wurde der Wert des Gesamtareals für M-Square dramatisch gemindert – während der Wert des Teilgrundstücks mit der Krokodilbar sich vervielfacht hat.«
Lola fasste zusammen: »Mit anderen Worten: Rischke und die Valente haben M-Square gelinkt!«
Germaine Gamma nickte: »Ganz genau. Wobei die Valente nicht mehr viel davon hatte. Die war schon schwer krank und ist ein paar Monate nach dem Deal verstorben.«
»Aber wie und warum wurde Jonathans strategisch unüberwindliche Position, wie M-Square das beschreibt, am Ende doch überwunden?«, wollte Lola wissen.
»Das ist die entscheidende Frage, die ich im Moment auch noch nicht beantworten kann.«
»Vielleicht sollten wir diese Frage einer unserer Freundinnen zur Beantwortung vorlegen.«, schlug Lola vor.
Donna Fauna war fassungslos. Die Story, die ihr Lola Mercedes und Germaine Gamma da auftischten, war unmöglich in Einklang zu bringen mit ihren farbenfrohen Erinnerungen an Shivas Paradize. Miet- und Kaufverträge, Steuererklärungen und GEMA-Abrechnungen? Das war, als käme jemand mit einer Rechnung für Sauerkrautplatten, Schrauben und Schmirgelpapier daher, die Noah einstmals mit drei Prozent Stammkundenrabatt im örtlichen Hagebaumarkt für den Bau seiner Arche eingekauft habe. Das war einfach aberwitzig!
»Sag mal: Wie genau ist das eigentlich zu Ende gegangen mit Shivas Paradize?«, wollte Germaine Gamma von Fauna wissen. Die seufzte tief, schwieg lange, seufzte erneut und begann zu erzählen.
»Das kam für uns alle völlig überraschend. Ihr wisst ja vielleicht, dass ich so ab dem Sommer 2002 in Shivas Paradize gewohnt habe. Und ich war nicht die Einzige. Es hatte den Anschein, als würde da eine Art Siedlungsprojekt anlaufen, auch wenn die Umstände natürlich nicht sehr wohnlich waren, vor allem im Winter, das waren Verhältnisse wie in Stalingrad. Der Willbroox hat das jedenfalls total unterstützt damals, dass Leute anfingen, im Kombinat zu wohnen. Der hat halt nur geschaut, dass das einigermaßen ordentlich abgelaufen ist. Neolin 2 und ich haben uns ja quasi mitten im Partybereich eingenistet, also in der Chillout-Area, rund um eine große Feuerstelle, in so zeltartigen Behausungen. Später haben zwei, drei Leute damit angefangen, sich in den ehemaligen Büros des Kombinats Wohnungen auszubauen. Wir waren alle der Meinung, dass das erst der Beginn ist, dass wir wirklich die Basis für so eine Art Gegenzivilisation entwickeln. Klingt heute vielleicht naiv, aber die innere Kraft dieser Szene, die Power der Leute, das hat wirklich die Zukunftsenergie einer ganz neuen Epoche geatmet, das war unglaublich und es sind einem ständig Sachen passiert, die Du mit Zufall oder Einbildung nicht mehr erklärt gekriegt hast. Beweise der Kraft und echte Wunder. Hinterher fragst Du Dich natürlich, ob das nicht doch einfach Zufall gewesen ist oder Einbildung, aber damals waren Wunder eine ziemlich alltägliche Angelegenheit und es wurde kaum infrage gestellt, dass die Götter, die Dämonen oder Engel dann halt mal wieder eingegriffen hatten. So was war für uns … normal.«
Fauna bekam glänzende Augen, als sie sich in diese geheiligten Zustände zurückversetzte. Auch Germaine und Lola, die die hohen Zeiten der elektronischen Kultur verpasst hatten und Shivas Paradize nur aus Erzählungen kannten, waren gerührt und beeindruckt von der offenbaren gegenweltlichen Intaktheit des Ladens.
Jonathan Rischke mochte ein Schlitzohr von ausgesuchter Skrupellosigkeit sein, dachte bei sich Lola Mercedes, aber er hatte es mit Geld, Verschlagenheit und einer gehörigen Portion Risikobereitschaft doch immerhin vollbracht, diesen legendären Ort zu erobern, zu entwickeln und sogar gegen die Machinationen der Treuhand und eines international tätigen Spekulantenfonds einige Jahre lang zu verteidigen.
Dass die Feiernden von diesen Konflikten nicht viel mitbekommen hatten, konnte man ja auch positiv auslegen. Während die in aller Ruhe Party machen und an der neuen Zivilisation herumbasteln konnten, hatte Rischke – oder er, Thom Willbroox und eine Handvoll anderer Leute – diese ganzen Konflikte allein durchgefochten, den ganzen Druck weggebuckelt und die Existenz des Ladens mit List und Tücke gesichert.
Germaine Gamma kam trotzdem noch einmal auf ihre Frage zurück, wie es denn nun mit Shivas Paradize zu Ende gegangen sei. Donna Fauna machte ein schmerzensreiches Gesicht, als reiße eine alte, kaum verheilte Wunde jäh wieder auf:
»Wir wurden brutal geräumt. Zwei Hundertschaften Kampfbullen, mindestens. Ohne jede Vorwarnung und aus heiterem Himmel. Eines Nachmittags rollten die plötzlich an, stürmten rein, schlugen alles kurz und klein, Deko, Einrichtung, Tresen, Soundsystem – wir waren zu dem Zeitpunkt vielleicht fünfzig, sechzig Leute und dann haben die uns rausgeprügelt, dass die Sternchen aufgegangen sind. Draußen standen schon Handwerker und Material bereit und zwei Tage später war das Kombinat versiegelt und verriegelt und Shivas Paradize existierte nicht mehr.«
Ich fand Shivas Paradise recht gut, man muss ja die Batterien mal aufladen können.
Irgendwie muss man ja mit voller Kraft im Namen der unbekannten Herren deren System verteidigen.
😉