
Die geplante Kampagne gegen eine schwedische Immobilien-Heuschrecke beginnt: das Stadtmagazin hebt die Story auf die Titelseite und das Thema schlägt ein.
Durch die Titelseite der August-Ausgabe des Stadtmagazins ging ein aufwendig gelayouteter Riss: links das Foto des pflanzenüberwucherten, rechts ein Foto des sanierten Quex-Balkons. Darunter stand: »Balkonfrevel in Friedrichshain! Junger Kreativer verklagt Spekulanten.«
Die Lettern waren weitaus größer als gewohnt; eine richtige Schlagzeile war das. Im Heft wurde das Thema über eine Doppelseite ausgebreitet, dazu kam ein Kommentar von Germaine Gamma, Lola Mercedes liebster Kollegin, mit der Überschrift: »Eine Stadt prostituiert sich«. Schwungvolle Angriffe gegen Immobilienspekulanten im Allgemeinen und den im konkreten Falle zuständigen Immobilienfonds mit Postadresse in Finnland gab es da zu lesen.
Lola fuhr auch gegen die Ausverkaufspolitik des Rot-Roten Senats schwere Geschütze auf, legte überdem nahe, Baukorruption habe in Berlin seit Jahrzehnten und parteiübergreifend Tradition.
Auch Donna Faunas schlitzblättriger, persischer Efeu fand prominente Erwähnung.
Die reißerische Coverstory platzte ins mediale Sommerloch und zerriss förmlich die Leserschaft des Stadtmagazins – und dessen Redaktion, deren feste freie Mitarbeiterin Lola seit vielen Jahren war. Die einen feierten den schwungvollen Gegenangriff auf die Gentrifizierer und solidarisierten sich euphorisch mit dem Kanarienquex, den plötzlich Hinz und Kunz persönlich zu kennen vorgab – die anderen empörten sich über den Bildzeitungsstil des Aufmachers und fanden die ganze Sache mit dem Balkon überhaupt lachhaft.
Lola Mercedes hatte erreicht, was sie wollte. So oder so wurde über den Fall geredet. Sie glaubte nicht an Konsensjournalismus. Sie war überzeugt, die Leserschaft von Zeit zu Zeit zu spalten, dabei aber immer hübsch bei der Stange zu halten, sei die echte Kunst der Meinungsmache. Und Meinungen machen, indem man Kontroversen auslöste, führte und gewann, diese Methodik hatte Lola seit frühesten Schülerzeitungstagen perfektioniert.
Die Verlagsbosse gingen genau aus diesem Grunde mit der Idee schwanger, Lola Mercedes auf den Posten der Chefredakteurin zu hieven, und hatten ihr grünes Licht für die Mieter-Kampagne gegeben. Der durch eine anstehende Babypause demnächst ausfallende Chefredakteur stand intern in der Kritik.
Das vor fünfundzwanzig Jahren als linksradikales Szene-Blättchen mit Veranstaltungshinweisen gestartete Magazin hatte sich längst zu einer lukrativen Hochglanzpublikation mit Veranstaltungshinweisen gemausert. Weitgehend abhängig vom Anzeigengeschäft hatte man den politischen Ton stark gedämpft, aber in letzter Zeit war das Magazin dadurch so dröge geworden, dass die Auflage einzubrechen drohte. Neue Veranstaltungsportale im Netz machten zudem Konkurrenz.
Das Stadtmagazin sollte deshalb – so die neue Vorgabe von ganz oben – »inhaltliche Relevanz« entwickeln und wieder mehr sein als nur ein hübsch aufgemachter Veranstaltungskalender, garniert mit als Artikeln getarnten Werbetexten. Die anstehende Senatswahl erschien als ein ideales Umfeld, die Konturen zu schärfen.
Die Balkon-Story war Lolas Testballon für die neue Blatt-Strategie. Und der Testballon hob ab! Der Tagesspiegel und die taz kommentierten den Fall, ätzend süffisant der erste, mit Sympathie die zweite. Am Folgetag gelang Lola, in der Berliner Zeitung ein Interview mit Jonathan Rischke zu lancieren. Der setzte in geschliffenen Worten die juristischen Verfehlungen der Immobiliengesellschaft auseinander, vermied jedoch tunlichst, sich als Mieteranwalt und Rächer der Enterbten zu inszenieren.
Wie er es mit Lola detailliert durchgesprochen hatte und wie es aber auch seinen längerfristigen Geschäftsinteressen entgegenkam, setzte er sich lieber als Vorkämpfer des kreativen, jungen Berlins in Szene. Diese Kreativen – und nicht anonyme Investmentfonds – seien die Träger der Innovation in dieser Stadt, wofür es allerdings gewisser Freiheiten des kulturellen Ausdrucks bedürfe. Gerade urbane Soziotope wie Balkone, Parks und Hinterhöfe seien als Freiräume unerlässlich, wie die Kreativitätsforschung hinlänglich belegt habe. Eine übertriebene Reglementierung und Vereinheitlichung solcher Refugien mache der kommunikativen Elite die Reproduktion ihrer Kreativkraft geradezu unmöglich – eine für den Wirtschaftsstandort Berlin verheerende Fehlentwicklung. Der Fall seines Mandanten sei da exemplarisch.
Rischke las das Interview wieder und immer wieder. Er war restlos begeistert von sich und von seinem genialen Schachzug. Eine PR-Strategie anzusetzen, die ihn den linkesten Kreisen der Gentrifizierungsgegner akzeptabel machte und gleichzeitig als Champion jener »Kreativkräfte« aufbaute, die doch wohl die Stoßtruppen der Gentrifizierung waren – ein Kunstgriff von seltener Kühnheit!
In einem jubilanten Telefonat mit Lola Mercedes konnte sich Rischke über die durchtriebene Eleganz des Vorgangs offen auslassen. Auch sie liebte es, sich nach einem gelungenen Coup in jenem Zynismus zu suhlen, der so leichtfüßig, und doch professionell verrucht daherkam, dass er schon wieder etwas Fortschrittliches ausstrahlte.
Nur waren es nicht haargenau diese Art tabubrecherischer Gespräche, die ansonsten immer die Anderen führten? Die Arschlöcher? Die Feinde?
In der Tat stellte sich Lola Mercedes die Frage, ob dieser Jonathan Rischke, den sie menschlich gesehen sowieso für eine fragwürdige Type hielt, nicht längst einer dieser »Anderen« geworden war.
Und sie selbst? Sie, die sich mit diesem menschlich so fragwürdigen Rischke gerade für einen gewitzten Spagat quer übers politische Feld feierte und die sie auch den offiziell schwulen Rischke mit ihren weiblichen Reizen zu betören versuchte, weil sie sich von dessen Position und Connections einiges versprechen zu dürfen glaubte?
Nein! Sie, Lola Mercedes, das war ein ganz anders gelagerter Fall. Sie war eine Tochter Kanakistans – und entschlossen, es zu bleiben. Sie beherrschte das Spiel der Biodeutschen, der Neuzeithunnen, der Kartoffelnasen, sie spielte es mit Verve und Chuzpe und dreimal über die Bande. Dass es ein verdammtes Scheiß-Spiel war, vergaß sie dabei keinen Augenblick lang. Und das würden die allesamt noch rechtzeitig rausfinden. Das zumindest sagte Lola Mercedes in diesem Moment zu und über Lola Mercedes. Und der wenigstens vertraute sie.
Enthusiasmiert von seinem Medien-Coup ging Jonathan Rischke schwungvoll zur Sache. Er ließ sich sogar zu dem Angebot hinreißen, KQ könne bis auf weiteres jede Zahlung bleiben lassen. Am Ende werde der Prozess mit großer Wahrscheinlichkeit sowieso gewonnen und dann zahle ja die Gegenseite. Im anderen Fall werde man sich mit Sicherheit gütlich einigen können.
Der Kanarienquex verstand das so, dass er in keinem Fall zu zahlen hätte. Sein Talent, das eigene Wunschdenken in aktives Missverstehen umzuwandeln, war unübertroffen.
Ansonsten war auch er begeistert, wie er in der Magazin-Story rübergekommen war. Prompt hatte sich ein loser Party-Bekannter nach ewigen Zeiten wieder gerührt und KQs Gemälde »Raver in Öl«, für das er sich schon lange interessiert hatte, endlich gekauft. Für 1 200 Euro, das waren 600 mehr als vordem gefordert, aber KQ hatte beschlossen zu tun, was Vermieter, Krankenkassen und Ladenketten ständig machten: Er setzte die Preise nach oben.
»Ist doch klar!«, meinte Rischke: »Der Typ hat Dich im Stadtmagazin gesehen und der pure Verdacht, Du könntest demnächst richtig berühmt werden, hat ihm zur Kaufentscheidung verholfen. Der fühlt sich jetzt als superkluger Kunst-Spekulant.«
KQ winkte ab: »Na, so wild wird sich der nicht fühlen. Der hat von Kunst keinen Dunst.«
»Das haben die Wenigsten, die auf dem Kunstmarkt rumturnen«, konterte Rischke: »Genau deswegen hat es nur sehr am Rande mit der Qualität der Werke zu tun, wer durchbricht und wer durchfällt. Zufälle und kunstferne Faktoren spielen eine riesige Rolle. Ein Galerist, der angeblich einen Wahnsinns-Riecher hat, lässt beim richtigen Stehempfang Deinen Namen fallen, irgendein Ochse aus der Herde hört das, recherchiert und fängt plötzlich an, Dich zu sammeln. Das spricht sich rum. Und im Handumdrehen sammeln Dich andere auch. Das treibt wieder Deinen Marktwert hoch, und so weiter.«
»Mich sammeln? Das glaub ich mal eher nicht!«, gab sich KQ immer noch skeptisch.
»Abwarten, Quex. Kunst gilt heute als vergleichsweise sichere Anlageform. Typen, denen die Börsen zu unsicher geworden sind, spekulieren neuerdings en masse auf dem Kunstmarkt. Ehrlich, da gehen Milliarden rein. In Berlin eröffnen inzwischen private Galerien, die haben ein zweistelliges Millionenbudget nur für PR und Werbung.«
Das Gespräch federte zurück zur juristischen Attacke auf die Wohnungsgesellschaft. KQ unterschrieb Jonathan eine Vollmacht, und man besprach die nächsten Schritte. Zunächst würde Rischke denen einen Brief schreiben und darin satte Forderungen erheben, mit dem Angebot, die Sache außergerichtlich zu regeln. Darauf würden die mit absoluter Sicherheit nicht eingehen, woraufhin Rischke eine Frist setzen würde, nach deren Verstreichen er zur Klageerhebung zu schreiten gedächte. Für KQ hörte sich das überzeugend an. Beide verabschiedeten sich in aufgeräumter Stimmung.
Der kurze Exkurs über die Verhältnisse auf dem Berliner Kunstmarkt beschäftigte im weiteren Verlauf des Tages den einen wie den anderen. Rischke, dem völlig klar war, dass KQ jede noch so geringe Geldforderung niemals begleichen können würde, hatte die Idee, sich notfalls in Kunstwerken auszahlen zu lassen. Angefixt von der heutigen Diskussion spielte er darüber hinaus mit dem Gedanken, seinerseits der erste zu sein, der den Kanarienquex zu sammeln begann. Dass dieser künstlerisch richtig gut war, wusste Rischke seit jeher. Auch als Medientyp würde der im Grunde funktionieren, wenn er sich nur nicht ständig selbst im Weg stünde. Sollte aber diese Balkonstory dem Kanarienquex eine gewisse Basis öffentlicher Bekanntheit verschaffen, könnte das Quex-Projekt richtig abheben. Speziell, wenn er, Rischke, mit seinem Geld und seinen Verbindungen, kräftig anschieben und damit genau jene Spirale in Gang setzen würde, die er zuvor beschrieben hatte.
Ganz ähnlich gelagerte Ideen gingen KQ im Kopf herum. Der Rischke hatte doch Kohle und Einfluss. Wenn der sich zum Beispiel ein paar Bilder von ihm in die Kanzlei hängen würde – als Dauerleihgabe oder als Ausstellung? Sicher, es gab nichts Uncooleres, als in Rechtsanwaltskanzleien ausgestellt zu werden. Seinen Elektro-Homies dürfte KQ kein Sterbenswörtchen drüber sagen. Aber vielleicht würde Rischke ein paar Werke kaufen oder ihn beauftragen, eine Wand der Kanzlei oder seines Lofts zu collagieren? Oder hatte Rischke so einen Galeristen in petto, dessen fallengelassene Geheimtipp-Namen die Gier der Kunstochsen in Wallung brachten?
Auf jeden Fall entwickelte diese Balkongeschichte eine Dimension, die weit darüber hinausging, den Immobilienheinis ein bisschen ans Hosenpein zu seuchen.
Und Rischke? Der war eigentlich nicht so ein Schwachmat, wie KQ bisher heimlich gedacht hatte. Auf seine Art war Jonathan sogar sackcool, ein gechilltes Kerlchen. Der wusste, wie der Hase rennt.
Die neuen Mediendaten kamen und Lolas Sieg war perfekt. Die Ausgabe mit dem schmissigen Aufmacher hatte mitten im Sommerloch den Absatz angekurbelt. Speziell in den von Gentrifizierung am meisten betroffenen Bezirken schossen die Verkaufszahlen am Kiosk um bis zu fünfzehn Prozent nach oben.
Dazu wurde die Story inzwischen weiträumig aufgegriffen. In der Weekend-Beilage der Financial Times Deutschland wurde eine launige Glosse über den Fall geschrieben. Die Berliner Zeitung hatte in einem Rischke-Porträt dessen gesammelte Mythen über sich selbst nachgeplappert. Der Stern hatte zwei Balkon-Fotos als kommentierte Bildmeldung gebracht, woraufhin das im gleichen Verlag erscheinende NEON-Magazin den Kanarienquex wichtig genug für ein doppelseitiges Interview gehalten hatte.
Das war ein beachtlicher Kampagnenstart für einen Fall, der nüchtern betrachtet eigentlich keiner war. Das würde möglicherweise ausreichen, die Balkon-Story im Zuge der zu erwartenden juristischen Eskalation in die TV-Kanäle zu pushen.
Die Kritiker in Verlag und Redaktion wurden plötzlich sehr kleinlaut. Lola Mercedes hatte ihre Qualitäten als Trüffelschwein einmal mehr bewiesen. Der Geschäftsführer des Verlages überschlug sich vor Anerkennung.
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Versteht die KI meinen Kommentar auch mit ??
Vermutlich nicht. Ist ja keine vorhanden. Eine NI sehe ich bei ihrem Kommentar übrigens auch nicht.😉
Macht aber alles nix, Kunst lebt von Abstraktion.